Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
man von den Bienen zerfressen.« So jedenfalls sah es mein Vater immer.
56
Als ich für meinen Dokumentarfilm mehrere Male nach Cetinje reiste, um Material zu sammeln, fragte ich jedes Mal im Ort nach Schwester Marija, aber nur wenige wussten etwas über sie, es war jedoch auch eine Zeit, in der man über diese aufopfernden und fleißigen Ordensfrauen kaum sprach, sie waren gute Krankenschwestern, die sich voller Hingabe um ihre Patienten kümmerten und freundlich und liebevoll waren, ganz anders als die zivilen Krankenschwestern. Zweimal versuchte ich, mit ihr in Kontakt zu kommen, ich wollte mit ihr noch einmal über die Niederkunft meiner Mutter sprechen, aber das gelang mir nicht, weil Hauptschwester Anuncijata, die ein zeitweiliges Gelübde abgelegt hatte, mich zwar beide Male empfing, es aber strikt ablehnte, irgendetwas an Schwester Marija weiterzugeben, als verheimliche sie etwas, und meine Frage, ob sie denn noch am Leben sei, beantwortete sie nur mit Schweigen.
Das erste Mal traf ich Schwester Anuncijata vor dem Tor des Ordens, sie glaubte mir nicht, schien mich sogar zu verdächtigen, offenbar in der Annahme, es sei etwas zwischen der Franziskanerin Marija und mir gewesen, aber ich wollte nur ihre Version der Niederkunft hören, um zu sehen, was mir selbst in Erinnerung geblieben war und ob in meinem Gedächtnis das eine oder andere möglicherweise eine unrealistische Ausschmückung erfahren hatte. Außerdem hatte ich einfach den Wunsch, diese Frau nach fünfzehn Jahren wiederzusehen. Ihre Gestalt war schließlich schon ein fester Bestandteil meiner Erinnerungslandschaft geworden.
Das zweite Mal empfing man mich sogar herzlich bei den »Franziskanerinnen der unbefleckten Empfängnis«, direkt im Speisesaal; um mich herum standen drei, vier Schwestern, das Gespräch leitete aber wieder Schwester Anuncijata. Man gab mir hausgemachte Kipferl, die noch backofenwarm waren, aber das Gespräch verlief etwas zurückhaltend.
»Was wollen Sie eigentlich von Schwester Marija?«, fragte Anuncijata.
»Sie hat vor über fünfzehn Jahren meine Mutter bei der Geburt begleitet«, sagte ich.
»Schwester Marija war nie Hebamme. Und niemand hätte es ihr erlaubt, eine solche Aufgabe zu übernehmen«, sagte Anuncijata.
»Aber das war in einem fahrenden Zug, nicht in einem Krankenhaus«, sagte ich.
»Im Zug? Dann war es ihre Pflicht zu helfen«, sagte Schwester Anuncijata. »Das war wohl das erste Mal, dass sie so etwas tun musste, ich denke, sie hat nie zuvor einer Geburt beigewohnt. Sie war berufen worden, um sich der Lungenkranken anzunehmen.«
»Warum versteckt ihr sie vor mir? Haben Sie einen Grund dafür?«, wollte ich wissen.
Eine Antwort bekam ich nicht, alle anwesenden Schwestern wurden still und senkten ihre Blicke zu Boden, während Schwester Anuncijata sich darauf verstieg, auf ihre Hände zu starren. Irgendetwas Geheimnisvolles stand im Raum, etwas, das sie mir nicht erzählen konnten; wenn sie vor langer Zeit gestorben wäre, so hätte man das nicht vor mir verbergen müssen. Ich hätte nur einen Blumenstrauß an ihr Grab bringen und eine Kerze anzünden können. Schwester Anuncijata erzählte mit leiser Stimme von den Anfängen der Franziskanerinnen, die sich 1946 in Cetinje niedergelassen hatten. Ich hatte nichts über sie gewusst, und es wunderte mich, dass sie sich als Katholikinnen im Zentrum der Orthodoxie niedergelassen hatten, aber darüber sagte Schwester Anuncijata nichts. Bald schon bestanden die Cetinje-Franziskanerinnen aus Schwestern, die aus Slowenien gekommen waren, sie arbeiteten im Sanatorium Golnik , aber die Kommunisten kündigten ihnen dann allen. Man beschuldigte sie, Patienten mit Geschichten über Gott und den Glauben verführt zu haben, deshalb wurde ihnen ab diesem Moment die Arbeit in Krankenhäusern grundsätzlich untersagt. Eine Schwester starb im Gefängnis, die älteste unter ihnen, Schwester Marija, die ein lebenslanges Gelübde abgelegt hatte, war zu diesem Zeitpunkt 57 Jahre alt, man hatte sie in der Waschküche des Krankenhauses vergewaltigt. Ein junger montenegrinischer Arzt, Dr. Cvjetko Popović, der Spezialist im Sanatorium Golnik war, wandte sich sowohl an die Kirche als auch an den Staat mit der Bitte, dass man ihm zehn Franziskanerinnen als Mitarbeiterinnen überließ, die er in einer Lungenklinik in Cetinje beschäftigen wollte. Die slowenische Regierung überzeugte er davon, dass die Schwestern hier in einer orthodoxen und zudem atheistischen Gegend auf
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