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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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widersetzt sich mit Gottes Hilfe dem Verfall.«
    Die Schwestern küssten den Leichnam, knieten neben dem Schrein und fingen an, den Rosenkranz zu beten. Wenn ich dieses Gebet hätte mitbeten können, hätte ich es in diesem Augenblick getan. »Wir warten schon zwei Jahre darauf, dass die Bischofskonferenz Stellung zu diesem Fall bezieht«, sagte Schwester Anuncijata. »Es gab Vorschläge, sie zuerst zu bestatten und später erst ihr Mysterium offenzulegen, aber das haben wir abgelehnt. Marija ist für uns eine Heilige, es ist uns egal, was die Bischöfe und der Vatikan davon halten mögen«, sagte sie.
    Mehr als das habe ich nicht erfahren, ich habe keine Ahnung, ob sich Schwester Marija noch immer im Alkoven des Klosters befindet, ob man sie bestattet hat oder nicht, ich weiß auch nicht, unter welchen Umständen sie gestorben ist, aber selbst wenn ich die Hauptschwester weiter bedrängt hätte, es mir zu sagen, bin ich mir sicher, dass sie mir das verweigert hätte. Ich habe nie in Erfahrung gebracht, ob man Marija heiliggesprochen hat, ihr Schicksal brannte mir nicht mehr auf der Seele, was vor allem daran liegen mag, dass ich nichts mit Mysterien zu tun haben will; und wenn es in alledem irgendeine Art von Wunder gegeben hat, wenn die göttliche Gnade dem Körper dieser Märtyrerin tatsächlich zuteil geworden sein sollte und die Nonnen daran glauben, dann würde nur ein hochmütiger und oberflächlicher Mensch die Tatsache ignorieren, dass in jeder ähnlichen Begebenheit etwas Religiöses stecken kann. So zurückhaltend ich aber auch bin, so schrecke ich dennoch davor zurück, das sogenannte Wunder komplett zu verneinen, selbst dann, wenn es aus der Sehnsucht nach einem Wunder entstanden wäre. Die Sache mit dem Armband könnte im gleichen Bemühen an einer anderen Stelle und unter einer anderen Perspektive eine genauso mystische Bedeutung erlangen.

57
     
    Die Zeit, in der ich langsam erwachsen wurde, verbrachte ich ohne meine Eltern und entzog mich so ihrem Einfluss, aber darüber Genaueres zu erzählen wäre müßig. Es würde die Geduldigen ermüden, die mich so nehmen konnten, wie ich bin, mir selbst schwebte anfangs ohnehin eine ganz andere Art zu erzählen vor, jetzt ist es zu spät, meine Entscheidung kann ich nicht mehr rückgängig machen; mein Ich ist bis in unsere Zeit vorgedrungen und hat mir unterwegs ein paar schmerzhafte historische Betrachtungen aufgebürdet. Wenn jemanden das Autobiografische in diesem Buch zu sehr bedrängt, wenn er es als zu direkt erlebt, so kann er etwas Milde walten lassen, indem er bedenkt, dass es sich bei dieser Niederschrift eigentlich um eine Beichte handelt. Niemand geht beichten, weil es ihm gut geht, sondern weil sein Inneres eine Wunde davongetragen hat und weil er mit sich selbst ringt. Das hier vorgestellte Ich feiert weder sich noch andere, es hat sich letztlich auch keine Lobhudeleien zur Aufgabe gemacht. Es versucht nur, so offen wie möglich zu sein.
    Als ich fünfzehn war, verschlug es mich in ein Banater Dorf namens Klek in der Nähe von Zrenjani, dort stieß ich auf meine Tante Pava, Mutters älteste Schwester. Wie ich aber zu ihr gekommen war, ist auch für mich und meine Erinnerung ein Rätsel, denn diese Tante hatte ich nie zuvor gesehen und wusste auch nur wenig über sie; meine Großmutter Jelica sprach selten von ihren Töchtern, die sie immer als »unglückliche Töchter, geboren in einem glücklichen Heim« beschrieben hatte. Nur meine Mutter wurde von ihr verwöhnt und gelobt, aber auch ihr war das Schicksal nicht gewogen; sie hätte sich besser verheiraten und zehn Kinder zur Welt bringen können, wenn schon ihre Schwestern ohne Nachkommenschaft geblieben sind. Pava war mit einem ehemaligen orthodoxen Priester aus der Gemeinde St. Georg verheiratet. Er hatte als junger Mann in der Parochie Trnovo gedient, kehrte aber dann vollends um, entsagte seinem Glauben, wendete sich von der Kirche und seiner Hirtenmission ab. Zwischen den beiden Weltkriegen gelang es ihm, als Kommunist ins Gefängnis zu kommen. Über ihn hatte man sich erzählt, er sei Vollstrecker bei den Partisanen gewesen und habe mit Genuss Leute getötet und die in Gefangenschaft geratenen Ustaše gequält; ob das der Wahrheit entsprach, wusste niemand von uns, aber Angst hatten wir alle vor ihm. Mein Vater sagte, ein Fünkchen Wahrheit verberge sich immer in solchen Geschichten, denn selbst wenn wir wissen, dass die Leute sich vieles ausdenken und immer übertreiben, sagte er,

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