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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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taube Ohren in Religionsdingen stoßen würden; der Kirche stellte er ein Kloster für die Nonnen in Aussicht, versicherte glaubwürdig, dass sie neben ihren medizinischen Diensten im Krankenhaus, die in Montenegro dringend nötig waren, in aller Ruhe ihren Glauben praktizieren konnten. Und genauso ist es auch gewesen.
    »Damals gab es in Montenegro um die zwanzig Schwestern, heute sind es insgesamt hundertzweiundvierzig«, sagte die Hauptschwester Anuncijata und stand hastig auf, um zu signalisieren, dass dies das Ende der Besuchszeit war.
    Als ich vor ihr stand, ohne zu wissen, wie ich mich von ihr verabschieden sollte und was ich noch tun konnte, um mehr über Schwester Marija zu erfahren, gab mir Anuncijata die Hand, dann ging sie zur Tür des Speisesaals, wo sie kurz stehen blieb, sich umdrehte und mich gütig ansah, mit einer Direktheit, die etwas Verführerisches hatte, sie deutete eine Verbeugung an, ein leichtes Lächeln war in ihren Mundwinkeln zu sehen, ihr schönes, von der Haube umrahmtes Gesicht leuchtete. »Kommen Sie morgen Vormittag ins Kloster, es wird möglich sein, Schwester Marija zu sehen«, sagte sie und ging auf das Zimmer der Oberschwester zu.
    Die jüngeren Nonnen der Unbefleckten Empfängnis waren sichtlich froh über die Entscheidung ihrer Vorsteherin, übermütig lachten sie jetzt und man sah dabei ihre schönen weißen Zähne; sie freuten sich allem Anschein nach über etwas, das ich in diesem Augenblick nicht verstehen konnte. Von der idiotischen Annahme fehlgeleitet, es handle sich um eine sinnliche Entladung und um Freude über erneuten Männerbesuch, musste ich erkennen, dass das leider nur meine Fantasie war. Mir war auch kein bisschen klar, was sich eigentlich hinter dem ganzen geheimnisvollen Gerede um Schwester Marija verbarg; ich war überzeugt davon, dass sie krank war und man sie nicht überfordern wollte, mein Besuch aber eine große Ausnahme und ein Akt der Dankbarkeit war, weshalb man mir also erlaubte, sie kurz zu sehen.
    Als ich am nächsten Tag kam, fand ich die Tür zum Kloster schon angelehnt vor, ich stieß sie auf und ging hinein, im Halbdunkel erwartete mich die diensthabende Novizin, Schwester Cecilija, sie forderte mich auf, ihr zu folgen. Wir durchschritten einen abgedunkelten Raum und stiegen Marmorstufen hinauf, an deren Ende die anderen Schwestern auf uns warteten. Ich begrüßte sie laut und deutlich mit den Worten Gesegnet sei Jesus Christus , damit wollte ich ihnen meine Ehrerbietung zeigen und meinte das ernst, ohne irgendeine Ironie oder gar Heuchelei; das fühlten sie auch und erwiderten meine Worte einstimmig. Wir gingen einen schmalen Flur entlang und kamen zu einer verschlossenen Tür, an die eine der Schwestern klopfte. Als die Tür aufging, erwartete uns eine leise Musik, und Hauptschwester Anuncijata hielt einen Kerzenleuchter in der Hand. Wir folgten ihr bis zu einem Alkoven, vor dem ein plissierter Vorhang hing, sie zog ihn zur Seite. Auf einem schmalen Gestell war ein auf einem Sockel stehender Totenschrein zu sehen. Als ich näher trat und mich über den Körper beugte, hob Schwester Anuncijata den Kerzenleuchter in die Höhe und ich erblickte ein eingesunkenes wächsernes Gesicht. Die Haut klebte an den Knochen des Kopfes, der Körper war ab der Mitte mit einem tiefdunklen Stoff bedeckt, auf dem mit goldenem Garn ein Kreuz aufgestickt war. Die Hände lagen überkreuzt auf ihrer Brust, sie waren trocken und klein wie ihre Unterarme, jede Vene und jedes Muttermal waren auf ihrer Haut zu sehen. Am rechten Arm leuchtete ein Goldarmband, das für eine so schmale und verwelkte Hand viel zu groß war. Einen Augenblick lang meinte ich jenes Armband zu sehen, das ich verkauft hatte, aber ich konnte mich eigentlich nicht mehr an sein genaues Aussehen und die filigranen Details erinnern. Ein kleiner roter Rubin, der am Armband die Funktion einer Klammer hatte, leuchtete wie glühende Kohle. An der Wand hing neben dem Leichnam der Gekreuzigte. Ich glaube nicht, dass es mir möglich war, nach so vielen Jahren das Gesicht von Schwester Marija zu erkennen, sicher wäre sie mir lebendig genauso wie jetzt als mumifizierte Leiche eine Unbekannte gewesen. All das war rätselhaft für mich, ich fragte aber nicht nach, warum sie hier auf diese Weise aufgebahrt worden war. »Das ist Schwester Marija, für uns ist sie eine Heilige«, sagte Anuncijata. »Sie ist vor sieben Jahren unter mystischen Umständen gestorben. Sie ist nicht balsamiert, aber ihr Körper

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