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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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sollte einer nur um der Familientradition willen Schweine kastrieren oder in einem Wirtshaus arbeiten?
    Der Erste Weltkrieg brachte den Bruch mit einer ganzen Epoche mit sich. Mein Vater sah in ihm ein notwendiges Übel, die Knochen des alten Imperiums waren ohnehin schon eingerostet. Das eine musste zerfallen, um das andere möglich zu machen. Ich hörte gerne zu, wenn mein Vater Geschichten über den Krieg erzählte, sie waren prall und immer wieder überraschend, und am liebsten hörte ich sie, wenn er sie anderen erzählte und nicht bemerkte, dass ich mich irgendwo in eine Ecke verkrochen hatte und ihm lauschte. Seine lasziven Erzählungen mochte ich am liebsten. Einmal konnte ich vor lauter Lachen nicht mehr an mich halten, verschluckte mich glucksend und verriet auf diese Weise mein gut behütetes Versteck. Mein Vater erzählte oft davon, dass er mit tänzelndem Katzengang und geruchssicherer Hundenase dem Krieg entkommen sei, dieser ihm aber ununterbrochen an den Fersen geblieben war. Jene Zeit seines Lebens bezeichnete er häufig als einen »Gang über Minenfelder«. Er war immer der Späher, derjenige, der nach einem Fluchtweg Ausschau hielt, um nicht geschnappt zu werden. Seine Geschichten waren vor allem dann sehr unterhaltsam, wenn er mehrere Zuhörer hatte, in einem Zugabteil oder im Kaffeehaus erlangte er Meisterschaft im Erzählen.
    Ich erinnere mich daran, dass er auf einer Zugfahrt vor Schülern, die gerade einen Ausflug machten, die Bedeutung großer Ohren  in Kriegszeiten proklamierte; diese seien unabkömmlich, wenn man rechtzeitig an wichtige Nachrichten kommen und mitkriegen wollte, aus welcher Richtung ein Übel kam und in welche Richtung man Reißaus nehmen musste. Dann begann er, mit seinen großen Ohren zu wackeln und einen Narren aus sich zu machen. Und wer von uns hat sich nicht etwas Eigensinniges einfallen lassen, um das eine oder andere Kind zu unterhalten? Als Vater sah, dass seine Albernheiten ihr Ziel erreicht hatten, begann er noch mehr zu übertreiben und bescheinigte sich selbst die Fähigkeit, im Krieg mit den Ohren so weit gewunken zu haben, dass er fliegend den Gefahren entkommen konnte. Immer mehr Kinder versammelten sich um ihn herum, und die freieren unter den Kleinen berührten und überprüften eifrig seine Ohren. Er ließ das zu, beugte sich sogar nach vorne und bot sie auch den schüchternen Mädchen an. »Na komm schon, fass einmal an!«, sagte er. »Pack ruhig zu, das ist nicht gefährlich, meine Ohren beißen nicht. Das sind menschliche Ohren, die schon alles Mögliche im Leben gehört haben.«
    Mit solchen schelmischen Aktionen und gut kalkulierten Witzeleien versuchte mein Vater, seinen Zuhörern die eine oder andere Botschaft zu übermitteln. Sein Herumalbern hatte immer einen Grund, er machte das nie einfach aus purem Genuss, vielmehr hatte er das Bedürfnis, auf seine Weise etwas Wesentliches und Ernsthaftes zu sagen. Die Lehrer im Zug waren nicht beglückt. Ihre Herzen waren patriotische Herzen. Sie verübelten es ihm, dass er den Jugendlichen den Krieg madig machen wollte, denn sie hatten sich Mühe gegeben, ihnen beizubringen, dass nur freiheitsliebende Völker Kriege führten.
    Es stimmt, mein Vater war unterhaltsam, jetzt ist es leicht für mich, darüber zu schreiben, aber man stelle sich nur vor, wie es mir in der Kindheit ergangen ist, wie viele Tränen Mutter und ich wegen dieses eigensinnigen Kopfes vergossen haben, wie oft wir uns hungrig ins Bett legten, weil er seiner Verschwendungssucht immer den Vortritt vor unserem Magen gab. Vielleicht wäre auch ich so wie er geworden, aber mein Glück ist es gewesen, dass ich kein Familienmensch bin, ich habe keine Kinder, alle meine nahen Verwandten sind gestorben, und der Mensch, der mit mir lebt, meine nicht mit mir verheiratete Frau, ist aus dem gleichen Holz geschnitzt wie ich, sie gehört zu niemandem, verschiedene Einsamkeiten haben uns fest miteinander verbunden. Geheiratet haben wir nicht, weil wir unsere Liebe beschützen wollten, die von sich aus wirksam ist. Ob vor Gott oder vor einem Standesbeamten, eine Liebesgeschichte wird durch solche äußeren Einflüsse immer unterwandert und bringt automatisch unerwünschte Verpflichtungen mit sich, denen wir uns aber entziehen wollten. Außerdem war uns auch nicht nach Kindern. Wir wollten uns nicht das Recht herausnehmen, andere Wesen unglücklich zu machen, und verantwortlich wären wir für die Kinder dann nun einmal für immer gewesen. Außerdem war

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