Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
davor. Dieser Brief, seine Adresse und das Foto wurden immer in einer Kiste aufbewahrt. Es gab noch eine weitere, etwas ältere Fotografie, die immer in einer Schachtel lag, auf der »Butter cookies« geschrieben stand. Er war darauf als dreijähriger kleiner Junge in der Umarmung seiner Mutter Vukava zu sehen. Ein Schulzeugnis, das seinen Besuch der Grundschule bescheinigte, lag daneben. Sein Notendurchschnitt war sehr gut, aber für das Fach Betragen hatte er die Note mangelhaft bekommen. Das war alles, was mein Onkel von sich dagelassen hatte. Mehr als das wussten wir nicht über ihn.
Nach dem Krieg, als Hunger und Armut noch an der Tagesordnung waren, schrieb ihm meine Großmutter Vukava nach Amerika; sie war verzweifelt und bat ihn, ihnen wenigstens ein Päckchen mit alten Kleidern zu schicken. Er antwortete ihr nicht, ließ nie wieder etwas von sich hören, die ersehnten Kleider kamen nie an. Wir versuchten aber auch noch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, ihn zu finden. Freunde, die in der neuen jugoslawischen Diplomatie tätig waren, boten an, uns dabei behilflich zu sein. Auch das Rote Kreuz schalteten wir ein. Es gelang jedoch niemandem, etwas über Nikola in Erfahrung zu bringen. Und dann begannen die Geschichten über seinen Niedergang überhandzunehmen, und es hieß fortan nur noch, er habe es immerhin zu einer Karriere als Straßengangster gebracht.
Großvater Mato gab sich oft dafür die Schuld und führte das auf den Namen meines Onkels zurück. Den Namen Nikola trug einst einer unserer Vorfahren, der für seine kriminellen Energien und Raubüberfälle alle Art bekannt gewesen war. Bis heute ist die eine oder andere Auffassung unseres Großvaters nicht aus der Welt zu räumen, seine Ideen in dieser Sache hatten aber auch etwas Einnehmendes, vor allem eine seiner Überlegungen. Er glaubte an einen unsichtbaren Blutkreislauf innerhalb einer Familie und war überzeugt davon, dass in diesem niedere Leidenschaften wie in einem Gedächtnis abgespeichert sind. Er war sich darin sicher, dass sie selbst nach einem ganzen Jahrhundert oder auch fünf, sechs Generationen später noch immer wie eine Krankheit ausbrechen können. Großvater versteifte sich darauf, den Nachfahren von nun an nur die Namen jener Menschen zu geben, an die wir uns alle gerne erinnerten.
Ich wusste im Grunde nur wenig über meine Wurzeln, doch jedes Mal wenn ich etwas über sie in Erfahrung bringen wollte, versuchte mein Vater mich wieder davon abzubringen. »Herkunft kann man nicht beweisen«, sagte er, »so etwas steht von Natur aus auf wackeligen Beinen.«
Ich wüsste nichts über unseren Stammbaum, wenn mir nicht irgendwann aus heiterem Himmel in der ersten Hälfte der achtziger Jahre, das muss etwa 1984 gewesen sein, ein Archivar einen Papierfetzen in die Hand gedrückt hätte. Er hatte es aus einem Jahrbuch herausgerissen, in dem genau jener Teil meiner Familie erwähnt wurde, der in L. lebte. In diesem Text steht, dass unser Stammbaum auf einen bekannten Giftmischer-Clan aus Dubrovnik zurückzuführen ist. Es wäre mir unlieb, wenn ich hier den Eindruck eines Menschen erwecken würde, der seinen Stammbaum einer willkürlichen Korrektur unterwirft und sich dadurch selbst ein wenig aufs Ragusieren ausrichtet, andere aber, die das gleiche Spiel wie er spielen, nur mitleidig belächelt. Aber man hat mir nun einmal dieses Detail zugetragen, und keiner, der die Angewohnheit hat, sich schreibend näherzukommen, kann der Erwähnung widerstehen, gerade dem total Obskuren einer Sache etwas abgewinnen zu können. Einen guten Schriftsteller, heißt es, erkenne man schließlich an den Dingen, die in seinem Werk unterschwellig anklingen und nicht an denen, die allzu deutlich und greifbar sind. Alles andere hätte ich noch irgendwie übergehen können, nicht aber die Möglichkeit, der Nachfahre einer Familie von Giftmischern zu sein. Die Vorstellung, dass das, was wir heute sind, von ein paar Tropfen Gift abhing, war viel zu reizvoll, als dass ich es hätte ausblenden können. Und genau hier liegt auch eine Brücke zu meinem Werk, denn als mir die ersten Beurteilungen meiner literarischen Arbeit zu Ohren kamen, fiel mir damals vor allem auf, dass nahezu jeder ideologische Schreiberling und jeder Möchtegern-Kritiker, der sich mit meinen Büchern befasste, immer gleich davon überzeugt war, meine Literatur trage Gift in sich und man müsse solche Giftautoren wie mich von den Wurzeln her beschneiden.
Wenn ich damals gewusst hätte,
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