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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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der Nähe des Brunnens beim wilden Birnbaum? Meinen Stein von damals kann ich jederzeit beschreiben, ich muss nicht einmal die Augen dafür schließen, ich sehe und höre ihn auch immer. Selbst in den trockensten Sommern flossen aus ihm ein paar Tropfen Wasser, so groß und so rein waren sie, richtige Tränen. Mein Großvater hatte ihn »den weinenden Stein« genannt. Ein paar Legenden rankten sich um ihn, an die ich als Kind, Großmutter Jelicas spöttischen Bemerkungen zum Trotz, inbrünstig geglaubt habe.
    Nachdem der Zug den Abschnitt mit den Schmalspurschienen irgendwann hinter sich gelassen hatte und auf die normalen übergegangen war, setzte ich mich in ein Abteil zweiter Klasse. Die ganze Zeit über konzentrierte ich mich darauf, das Ei anzuschauen, das auf dieser Reise eine Art Meditationsgegenstand für mich wurde. Ich wollte mich sammeln, bevor ich wieder in Belgrad war, Teil jener künstlerischen Luft, die uns allen so erstrebenswert erschien, uns aber recht besehen vergiftete und zerstörte. Ich wusste, dass man durch die ausdauernde Betrachtung eines einzigen Gegenstandes die eigene Schwere symbolisch auf diesen Gegenstand übertragen konnte, deshalb nahm ich das Ei von allen Seiten ins Visier, drehte es in meinen Händen hin und her, legte es an mein Ohr, um zu hören, ob es Geräusche von sich gab, prägte mir alle äußeren Zeichen ein, die schließlich zu meinen Symbolen wurden. Wie gerne wäre ich das Embryo in ihm gewesen, um mich nur vor der Leere zu retten, die sich in mir ausgebreitet hatte.
    Nach Belgrad war ich sonst immer ohne Gepäck gereist, ohne je im Vorfeld zu wissen, wo ich übernachten würde. Ich verließ das Bahnhofsgelände aber immer mit einer ernsthaften Entschlossenheit, die mich dann jedes Mal in die Balkanska führte, eine Straße, die sich bergauf Richtung Stadtzentrum zog, zu den Kaffeehäusern, in denen sich die Künstler trafen. Ich ging mit einer Zuversicht dort hin, als erwarte mich ein geheimnisvoller und mit meiner Fürsorge betrauter Mensch, ein Mäzen oder ein Vertrag für einen Roman, den ich noch schreiben musste.
    Jetzt verließ ich das Abteil und trat auf den Flur; der Zug hatte wegen Bauarbeiten einen Umweg über die Pančevo-Brücke genommen und kam für ein paar Minuten mitten auf ihr zum Stehen, ich machte das Fenster auf, beugte mich nach draußen und sah auf die breite Donau. Sie floss schnell, das konnte man am besten an den Dingen erkennen, die das Wasser mitriss, Äste waren darunter, auch ein langer Baumstamm. Ansonsten wirkte die Donau wie ein schwerfälliger, trüber flacher Fluss. Ich starrte noch eine kurze Zeit auf das Ei in meiner Hand und dann warf ich es in die Tiefen der Donau, sah seinem Flug nach, und als es im Wasser aufkam, schreckte ich hoch, warf so schnell ich konnte meine Tasche hinterher und blieb meiner üblichen Ankunft in dieser Stadt treu, die ich auch dieses Mal nur mit den Händen in meinen Hosentaschen und ohne Gepäck betrat. Die Schwere fiel damit von mir ab, ich hatte mich befreit, das Leben mit Eva war damit symbolisch für mich verabschiedet. Aber als die Tasche in der Donau versank, begriff ich, dass sich in ihr auch mein Schreibheft mit den Romannotizen befunden hatte. Ich ärgerte mich darüber, es tat mir auch weh, aber es war einfach nichts mehr zu machen, und jammern wollte ich über diesen Verlust dann auch nicht. Es war mit Sicherheit richtig, dass das Manuskript auf diese Weise zerstört worden war, es fiel in die Tiefen des Flusses, wie alles andere auch, das dort sein Ende finden musste. Später ist mir das ein ums andere Mal einer Grübelei würdig erschienen, und ich war überzeugt davon, dass meine besten Sätze für immer und ewig jenseits der Zeit im dicken Bauch der Donau weiterlebten. Aber heute denke ich, dass es genau so richtig war, dass alles, was wir verlieren, auch verloren werden muss.

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    Vielleicht wäre es besser gewesen, ich hätte auch die Uhr meiner Tante weggeworfen, hätte sie ihr vor die Füße geschmissen und ihr damit meine Verachtung gezeigt. Aber ich habe das nicht getan, weil ich Schenkende, ganz gleich wie bedeutungslos ihre Geschenke auch sein mochten, schon immer in Ehren gehalten habe. Allen Enttäuschungen zum Trotz bin ich noch heute davon überzeugt, dass der Akt des Schenkens nichts Geringeres als Herzensadel zum Ausdruck bringt, deshalb hielt ich mich stets an meine Überzeugung, selbst dann, wenn man mich verletzt hatte. Als ich mit Antiquitäten gehandelt habe, war ich

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