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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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unfreundlich zu mir, sie hatte mich nur in meine Schranken gewiesen, mir gezeigt, dass uns keine Intimitäten mehr verbanden und dass Intimität genau das war, was nicht einfach nur allmählich, sondern jäh und schnell zwischen zwei Menschen endete. Sie erzählte mir, dass sie sich mit dem Arzt aus dem Haus der Gesundheit verlobt hatte, dass sie bald heiraten würden, dass sie ihn liebte und Kinder mit ihm haben wolle. Sie seien im gleichen Alter und es schade auch nicht, dass er ein Ungar sei. »Wir sind wie die Vögel, und jeder Vogel sucht bekanntlich seinen Schwarm«, sagte sie. »Ich habe dir ein kleines Geschenk mitgebracht, es ist nichts Besonderes, kein teures Geschenk«, sagte Eva, griff in ihre Tasche und verharrte kurz, damit ich mich innerlich auf ihr Geschenk vorbereiten konnte.
    Nach einigem Zögern holte sie dann ein großes Gänse-Ei raus, ganz sicher hatte es zwei Eidotter. Ich hatte noch nie so ein riesiges Ei gesehen. Es war mit Knoblauch gekocht, deshalb hatte es eine gelbe Farbe mit Rotstich bekommen, es war mit Flecken versehen, ein Herz mit Pfeil war darauf zu sehen und eine erotische Zeichnung. Es stand etwas auf Ungarisch drauf, ein Datum und Fingerabdrücke. Ich nahm dieses riesige Ei in die Hand und stammelte etwas Lobendes über die Kunstfertigkeit, mit der es bemalt worden war, Tibors Worte hallten in meinem Kopf nach, jener Satz, mit dem er die künstlerische Seele seines Lieblings Eva gelobt hatte. Ich glotzte auf das Ei, las immer wieder alles, was da stand, und wiegte es dann sogar verzückt in der Hand. Das Ganze überraschte mich, und weil es so sehr aus dem normalen Rahmen fiel, stimmte es mich, wie so oft, fröhlich. Jedem huscht dabei ein unkontrolliertes Lächeln über die Lippen, wer kann sich schon so etwas verkneifen, wenn er sieht, dass die Natur etwas derart Überdimensionales erschaffen kann. Mein Versuch, das Ei zu wiegen, hatte etwas Geschmackloses an sich, es war auch peinlich, dass ich diese billige erotische Andeutung nötig gehabt habe. Ich hatte mich zum Bettler gemacht und schämte mich nun dafür, dass ich offenbar das Ei symbolisch gedeutet und die Situation völlig falsch ausgelegt hatte. Wer weiß, welches Ausmaß an Hoffnungen in mir gewuchert hat, vielleicht habe ich an ein gutes Ende geglaubt, war sogar von der Idee der Auferstehung eingenommen, die unserem Leben immanent ist, die als Verwandlung aller Dinge und Menschen immer gegenwärtig ist, selbst dann, wenn wir am Ende der Hoffnung leben. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mein Wunsch zu erzählen nichts anderem als diesem Ei zu verdanken ist. Viele Schneckenhäuser habe ich verlassen müssen, stand aber dann vor den Widersprüchen des Lebens, wie man eben nach dem Verlassen eines Schneckenhäuschens in der Welt steht, ohne den Schutz des mütterlichen Schoßes. Aber der »Flug des Adlers«, wie die Alchemisten das Entfliehen in die Freiheit beschreiben, hat mich unzählige Male meines ganzen Koordinatensystems beraubt und ich wurde auf den Boden knallharter Tatsachen geworfen, sodass ich mir wieder und wieder den Weg zurück ins Schneckenhäuschen und damit in mein kleines Leben gewünscht habe.
    Nachdem Eva mir das riesige Ei überreicht hatte, verschwand sie. Im Bahnhofshäuschen klingelte das Telefon. Das war das Zeichen dafür, dass der Zug im Nachbarort abgefertigt worden war. Die Stimme des Eisenbahnwärters war zu hören, es wurde in zwei Anläufen die Zugnummer ausgerufen, ein paar andere Reisende, die sich in der Zwischenzeit am Gleis versammelt hatten, wurden verabschiedet, und es folgte eine Durchsage auf Ungarisch. Es war nicht leicht für mich, ich wusste nicht, wie es nun weitergehen würde und was mich jetzt erwartete, Unruhe überkam mich und ein leichtes Zittern. Und als ich aus der Ferne den Dampf der Lokomotive sah, fing mein Herz immer schneller an zu klopfen, ich weiß nicht, was es war, vielleicht die Schwermut, aus der sich damals am Gleis die Erinnerung an meine ganze Kindheit formte. Ich wartete auf die Züge und ließ sie dann doch wieder wegfahren, sie waren wie Wegweiser für mich, Zeichen und heimliche Hoffnung, dass man die Richtungen des Lebens selbst bestimmen konnte, vor allem aber, dass es mehrere zur Auswahl gab. Und der Abschied von Eva hatte alle meine Gefühle in Aufruhr gebracht. Hatte ich denn nicht schon längst genug über den Abschied gelernt und nicht bereits einen tiefen Abschied von meinem Stein vollzogen, damals, in L., auf dem Hof meiner Großmutter, in

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