Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
heimlich einen Liebhaber gehalten, in dessen Haustresor man später viele ihrer Geschenke gefunden habe, goldene Armbanduhren, Ringe, Perlenketten. So etwas konnte ich nicht einfach blindlings glauben, obwohl mir klar ist, dass Frauen durchaus die eine oder andere Schwäche haben, vor allem wenn sie sich so vernachlässigt fühlen wie meine Tante. Aber an diese erotischen Märchen glauben meiner Meinung nach nur Unwissende. Mein Vater hatte schon immer behauptet, dass es kein »Weibsbild« in unserer Gegend gebe, das nicht das für sie »passende Tuch« finden könnte. Aber in jener Reportage waren auch echte Fotos zu sehen. Auf dem einen Foto war mein blinder Onkel, der sich am Arm seiner Frau festhält; auf dem anderen Foto sah man das Wohnhaus der Malesevs, das man mit der Bildunterschrift »Das lasterhafte Haus« versehen hatte. Es war klar, dass die nächsten Nachbarn alles glaubten, was sie lasen, es spielte keine Rolle, dass sie in diesem Haus nie so geartetes und triebhaftes Volk zu Gesicht bekommen hatten. Der Verfasser suggerierte ihnen aber zudem mit seiner Überschrift und der Art, wie das Ganze präsentiert wurde, dass sich die Wirklichkeit uns Sterblichen in der Regel in ihrer Tiefe immer entzieht und dass gerade dort das Unerwartete geschieht, wo uns der banale Staub der Alltäglichkeit anweht. Ich habe in jenem Haus gelebt und weiß, dass das Einzige, was dort auffiel, jene langatmige schneidende Leere war, ihre einzige Mitspielerin war die Verzweiflung, die sich die Blindheit als Sehorgan zu eigen gemacht hatte. Das einzig Stimmige an dieser Reportage war ein Detail, das dem Polizeibericht entnommen worden war, es bezog sich auf die im Keller gehorteten Bürsten und Besen aller Art; es war von einem regelrechten Lagerhaus die Rede, denn man fand 2150 Stück. Mein Onkel hat über einen langen Zeitraum die Fabrik beklaut, in der er gearbeitet hat. Laut seiner Aussage tat er das lediglich zum Zeitvertreib, keineswegs aber um daraus persönlichen Nutzen zu ziehen. Er habe ohnehin den Plan gehegt, alles an jenem Tag zurückzubringen, an dem man ihn erwischen und der Portier sagen würde, er solle die »Bürsten aus den Hosen« rausnehmen. Der blinde Aco Malesev wurde zu sechs Monaten Haft verurteilt; genauso lange war er in Untersuchungshaft, was ihm angerechnet wurde. Gefängnisluft schnupperte er also in dem alten österreich-ungarischen Gebäudekomplex in Zrenjanin nur als Besucher; dort hatte man seine Ehefrau Pava hinter Gitter gebracht, die zu fünf Jahren Haft verurteilt worden war.
Ich hatte mir vorgenommen, es mir sogar geschworen, meine Tante Pava nie wiederzusehen; ich hatte schon mir wichtigere Menschen leichten Herzens und ohne schlechtes Gewissen abgeschrieben; es gibt nicht eine Freundschaft, der ich eine Träne hinterhergeweint habe, alles, was verloren ging, musste verloren gehen. Meine Haltung, das weiß ich, war egoistisch und selbstgerecht. Sie schloss Verletzlichkeit und das ans Irdische gebundene Leiden aus, oder, so sah ich das, reduzierte sie auf ein Mindestmaß. Mir gelang das nur, weil ich mein geistiges und physisches Leben der Literatur gewidmet habe. In ihr war Platz genug für das Leiden, den Schmerz und die Trauer, und alles, was von außen kam, fand in ihr seinen Ort. Jemand hat einmal die Literatur als riesiges Verarbeitungslaboratorium bezeichnet und von ihr als einer universalen Fabrik gesprochen, für mich ist sie mit dem ewigen Zweifel und mit existentieller Unsicherheit verbunden.
Aber zurück zu meiner Tante, meinen Schwur habe ich nicht gehalten, denn ich wurde von einem unerträglichen und irrsinnigen Bedürfnis getrieben, sie doch zu sehen und ihr einen Besuch im Gefängnis abzustatten. Genau das habe ich dann auch getan. Ich besorgte ein Kilo fein geschnittenen herzegowinischen Tabak, ein paar Packungen Zigarettenpapier, vereinbarte einen Besuchstermin und machte mich auf den Weg nach Zrenjanin.
Mit den Wächtern gab es ein Gerangel wegen dem Tabak, es war die Rede vom Staatsmonopol und noch ein paar andere hochtrabende Worte fielen, man berief sich auf Gesetze, aber irgendwie konnte ich die Wogen glätten und man ließ mich mit meinem Geschenk zur Gefangenen vor. Hinter der kleinen Kantine saß ich dann mit meiner Tante in einem Zimmerchen. Sofort sah ich, dass sie sogar im Gefängnis die Position einer Privilegierten innehatte. Unsere ganze Begegnung war distanziert, aber immerhin wunderte meine Tante sich, als sie mich sah, wollte jedoch keine Zeit
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