Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
neue muslimische Friedhof, der nach dem Ersten Weltkrieg entstanden ist, kann mit Recht Selims Werk genannt werden. Aus der Ferne sah es so aus, als gleiche ein Grabstein dem anderen, aber in Wirklichkeit waren das alles Einzelstücke; die vorderen und hinteren Zwischengräber für Frauen schmückte er noch mit einem eingemeißelten geschwungenen Zweiglein, mit Blumen und Blättern, manchmal arbeitete er aber auch eine Mokkatasse, ein Kaffeekännchen oder eine dickbauchige Flasche in den Stein. Auf den Männergrabsteinen hingegen sah man hin und wieder Koranverse, natürlich auch Rosenkränze, genauso wie Krummsäbel, Lanzen, Streitkeulen, Schwerter, Pistolen, Pfeil und Bogen. Und auf jedem von ihm bearbeiteten Stein war ein Neumond zu sehen, dessen Spitzen nach oben zeigten. Das war Selims Unterschrift.
Als ich mich auf den Weg zu Selim machte, hoffte ich, ihn noch lebend und in guter Verfassung anzutreffen. Das war Mitte der siebziger Jahre, welches Jahr es genau war, weiß ich allerdings nicht mehr, ich weiß nur noch, dass der Sommer zu Ende ging, dass es das Ende eines trockenen Sommers war. Nach über zwanzig Jahren kam ich zum ersten Mal wieder mit dem Auto nach L. und hatte mich mit einer Sonnenbrille und einem leichten Sommerhut aus Jutegarn maskiert. Es war kurz nach Mittag, für diese Zeit hatte ich mich bewusst entschieden, um weniger aufzufallen. Meine heimatlichen Propheten hatten es in diesen Jahren wieder einmal auf mich abgesehen, denn sie hatten in mir einen »Verräter der heimatlichen Erde« ausfindig gemacht. Und das alles nur wegen eines Romans, den keiner von ihnen gelesen hatte! Sie verstanden sich als »Nachfahren berühmter Helden«, und alles, was sie liebten, hatte ich in dunklen Tönen beschrieben und zusätzlich mit Ironie gewürzt. Sie hatten recht, es stimmt, ich habe ihren falschen Mythen den Hals umgedreht, und im Gegenzug haben sie mir den Aufenthalt in meiner Geburtsgegend untersagt.
Ich war dennoch gekommen, zwar heimlich, aber da war ich nun, hatte dafür die Zeit kurz nach Mittag gewählt, wenn die Sonne nicht heißer scheinen kann und alle Ortsbewohner sich in die Kühle der Schatten retten. Es waren einfache Menschen, ohne Bildung, sie haben nie etwas über mein tatsächliches Schreiben gewusst, es interessierte sie auch nicht wirklich, ihr eigentlicher Lebensmittelpunkt war und blieb das Hörensagen, darin kannten sie sich bestens aus. Angeführt wurde der ganze aufgebauschte Skandal aus der Provinz von Halbintellektuellen, die ja, neben Politikern, die bedenklichste Menschengattung darstellen. Ich kam gerade aus Dubrovnik, wo die Verfilmung eines meiner Drehbücher begonnen hatte. Das Team wartete nur noch auf das Ende der Touristensaison, damit die erste Klappe fallen konnte. Diese Zeit wollte ich nutzen, um Selim zu finden. Ich plante einen Kurzfilm, den ich Die Bildhauer der Gräber nennen wollte. Selims in Pech gelegte Hände, die ich noch aus meiner Kindheit kannte, waren immer fester Bestandteil meiner Erinnerung gewesen. In jedem Traum, der irgendetwas mit meiner Herkunft zu tun hatte, kamen sie vor, waren Teil jener Gedanken, die in meinem Inneren die Bilder meiner Heimat evozierten. Ich wollte herausfinden, ob die Erinnerungen greifbare Wirklichkeit oder einfach nur ausgestanzte Märchen waren.
Das eine oder andere erkannte ich schnell wieder, die Gegend schien sich aber auch grundsätzlich verändert zu haben. Ich fand mich nicht gleich zurecht, stand lange an der Straße und sah mir den Fluss an, der sich in einen See verwandelt hatte. Mir war schon zu Ohren gekommen, dass seit dem Bau des Staudamms und der Umleitung des Flusses das Ortszentrum von L. unter Wasser stand, auch ein paar kleine Siedlungen waren nicht mehr zu sehen, das fruchtbare Land war genauso wie Großvaters noch vor Urzeiten auseinandergefallener, morscher, hundertfach reparierter Bewässerungswagen verschwunden. Es war schwer auszuhalten, dass nun alles ganz anders aussah. Nicht einmal ein kleiner Rest meiner Erinnerungswelt war noch da, alles war vom Wasser verschluckt worden. Und mit einem Mal kam es mir so vor, als sei deshalb meine ganze Kindheit verwaist. Wo einst das Ortszentrum war, sah man jetzt die Spitze des Minaretts im Wasser aufragen, und weiter vorne, am oberen Wegrand, konnte ich aus der Ferne unser Haus sehen. Ich hätte mich aber nie getraut hinzugehen und wusste auch nicht, wer jetzt darin wohnte.
Selbst das, was ich annähernd erkannte, machte in dieser neuen Umgebung
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