Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
Vom Netzwerk:
seinen dicken zwergartigen Fingern, ein Zeichen für meinen Begleiter, dass er sich aus dem Staub machen sollte. Das tat er dann auch, aber von draußen hörte man noch immer sein ziegenartiges Kichern. Mir war klar, dass es völlig unangebracht war, jetzt mit Selim über meinen Film zu sprechen. Ich war mir nicht sicher, ob er davon irgendetwas verstanden hätte, und ich verwarf meine Idee. Hier gab es nur eines zu tun: so schnell wie möglich von hier fortzugehen. Aber mich hatte letztlich etwas anderes hierhergeführt, und das war vielleicht der ewige Zweifel an der Beständigkeit eigener Erinnerung. Ich hielt nicht mehr mit meinem Namen zurück, mehrfach erwähnte ich meinen Vater, betonte sogar, dass die beiden doch Freunde gewesen waren, aber er, obwohl er mir verständig zuzuhören schien, reagierte nicht darauf. Nach einem kurzen Schweigen legte er seine schwere Hand auf meine und fragte mich: »Was hast du auf dem Herzen? Was hat dich hierhergeführt?« »Ich wollte noch ein einziges Mal Selims Gräber sehen«, sagte ich. »Ist doch alles längst unter Wasser«, sagte er. »Noch bevor die Arbeiten am Staudamm begonnen haben, sind Fachleute hierhergekommen, von der Regierung, sie sagten, die Gräber seien ganz wertlos, man müsse sie nicht versetzen, wem daran gelegen sei, der könne ja die Knochen seiner Toten zum neuen Friedhof bringen. Die Grabnischen sieht man jetzt manchmal bei geringem Wasserstand, meine Turbane ragen aus dem Wasser wie Blumen. Wenn ich es auf die Beine schaffe, gehe ich hin und sehe sie mir jeden Tag an, so lange, bis das Wasser wieder steigt. Ich habe von ehrlichen Leuten gehört, dass zur Bayram-Zeit, wenn der Mond jung ist, meine Grabnischen aus dem Wasser herausragen und sich wie junge Bäume hin- und herbewegen, ganz kurz dauert diese Bewegung, wiederholt sich aber oft. Ob das die Seelen der Toten sein könnten und ob sie irgendeine Form haben? Ich weiß es nicht. Aber irgendetwas geschieht dort, sonst würden die Menschen nicht darüber reden. Als ich noch die Steine bearbeiten konnte, habe ich mit den Toten geredet und ihnen alle ihre Wünsche erfüllt. Ich habe nie etwas herausgearbeitet, was ich selbst wollte, sondern das, was die Münder der Toten mir gesagt haben.«
    »Du konntest mit den Toten sprechen?«, fragte ich ihn, aber er hörte meine Frage nicht oder wollte nicht auf sie eingehen.
    »Vielleicht haben meine Grabsteine ja gerade deshalb, wie man sich seitens der Behörden ausdrückte, keinen Wert, keine Bedeutung für unser kulturelles Erbe«, sprach er weiter. »Die denken ja alle, dass tote Münder nichts zu sagen haben, aber der, der zuhören kann, weiß um Himmels willen ganz genau, dass sie in der Lage sind, sich in ihrer Sprache und auf ihre Art und Weise mitzuteilen. Hätte ich grobherzig die Wünsche der Toten abgelehnt und nur nach meinem Gutdünken die Arbeit getan, wäre das, was ich getan hätte, heute eine richtige Hinterlassenschaft, vielleicht wäre ich sogar berühmt – und nicht das, was ich tatsächlich bin: vergessen! Verunstaltet an den Händen, am Einzigen, was gut war an mir und an meinem Leben! Ich hätte dann aber mit Taubheit gesegnet sein müssen. Das Einzige, was mich tröstet, ist, dass meine Arbeiten unter Wasser an Wert gewinnen werden. Es sind doch in der Geschichte der Menschheit immer die Entdeckungen gewesen, durch die die vergessenen Dinge viel kostbarer geworden sind, kostbarer als das, was wir Tag für Tag sehen können«, sagte er und wurde immer leiser dabei. Dann hielt er inne und sah mich an, als bemerke er mich erst in diesem Augenblick. »Du kannst über Nacht hier bleiben, wenn du bleiben willst«, sagte er.
    »Ich bin auf dem Sprung«, sagte ich und stand schnell auf. Zum Abschied hielt ich seine beiden großen entstellten Hände eine Weile lang fest.
    Ich hatte mich hier länger aufgehalten, als es ursprünglich angedacht war. Als ich sein Haus verließ, sah ich ein paar Badende am Ufer, und am Wegesrand saßen ein paar Fischer mit ihren Angeln. Einer von ihnen sprang gerade in diesem Augenblick überrascht auf die Beine, er kämpfte offenbar mit etwas Schwerem, das gerade angebissen hatte. Es zog ihn zu sich, und er musste sich mit seiner ganzen Kraft dagegenstemmen, schien aber glücklich über die Aussicht auf einen so großen Fang zu sein, gleichzeitig war er mit der Gefahr konfrontiert, in die Tiefe gezogen zu werden. Seine Angelrute bog und spannte sich mehr und mehr, so als könnte sie jeden Augenblick zerbersten.

Weitere Kostenlose Bücher