Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
einen fremden Eindruck auf mich, und mir kam der Gedanke, die neuen Bilder erst gar nicht in mich hineinzulassen. Immer öfter schloss ich einfach die Augen, um nicht zu viel sehen und mir so weniger merken zu müssen. Meine Urbilder überlagerten schließlich die Wirklichkeit, und in der Berührung dieser beiden Welten schälte sich vor meinem inneren Auge das Imaginierte als das für mich Wahrhaftigere heraus. Aber schwach und niedergedrückt blieb ich dennoch zurück, und um den Schmerz kam ich ja doch nicht herum. Ich setzte mich für einen kurzen Augenblick auf die Erde, um mich ein bisschen zu sammeln, und nach dem Einatmen und Ausatmen, zu dem mir meine Mutter immer geraten hatte, stieg ich ins Auto, drehte auf der Straße um und fuhr zur alten Brücke zurück. Von dort nahm ich den durchlöcherten Weg in Richtung der ersten Häuser. Ich erkannte nichts, nicht ein Haus, nicht einmal einen alten Baum, dabei hatte sich auf diesen Gehöften einst ein bekannter Wipfel an den anderen gereiht, so viele unterschiedliche Bäume hatte es hier gegeben und sie hatten uns sattesten Schatten gespendet. Hier irgendwo hatte mein Vater unzählige Male bei einer Tasse Mokka und Zigaretten mit seinen Freunden unter den Bäumen gesessen. Wohin war bloß all das verschwunden, konnte denn wirklich alles unters Wasser gekommen sein?
Ich blieb auf dem sich ins Weite öffnenden Weg stehen und entschied mich dafür, in Richtung der ersten Häuser zu Fuß weiterzugehen. Ich stellte mein Auto ab und hatte Glück. Ich sah einen alten Mann unter einem Baum sitzen, unrasiert war er, mit eingefallenen Wangen, er rauchte und nahm erst die Zigarrenspitze aus dem Mund, als ich vor ihn trat. Er sah mich an, ohne meine Begrüßung zu erwidern. Ich hatte das Gefühl, dass er gar nicht mit mir sprechen wollte, denn plötzlich kam mir der Gedanke, er könnte mich erkannt haben. Obwohl das unmöglich war und ich mich bewusst dagegen wehrte, wurde mein Verstand stetig von meiner Paranoia erobert.
»Ich suche Selim«, sagte ich.
»Was für einen Selim?«
»Den Steinmetz«, sagte ich. »Hoffentlich lebt er noch.«
»Mir nach!«, sagte er anführerisch und sprang trotz seines Alters rasch auf die Beine.
Er war barfüßig, ein lebendes Skelett, aber ich kam diesem olympisch schnellen Geher kaum hinterher. Schweigend eilten wir los, ich weiß selbst nicht, warum, aber es war mir unangenehm, hinter dem Alten ein, zwei Mal innehalten und durchatmen zu müssen, schließlich war er mindestens doppelt so alt wie ich. Seine nackten Füße sprangen gekonnt von Stein zu Stein, schnell kamen wir bei den kleinen baufälligen Häusern an und stiegen die leichte Anhöhe hinauf. Schließlich brachte mich mein Lotse zu einem flachen heruntergekommenen Haus, legte die Hand auf die Eingangstür; richtiger wäre es, zu sagen, er schlug wie ein Gewährsmann gegen die Tür, als wollte er auf diese Weise einen Fliegenschwarm aufscheuchen. Das war seine Art, mir wortlos mitzuteilen, dass es sich um Selims Haus handelte. Es dauerte lange, seine Hand behielt er eine Weile auf der Tür, er schien mit ihr ins Haus hineinzuhorchen, und dann hörte man von innen ein Schluchzen.
»Seit dreißig Jahren schluchzt er in diesem Haus vor sich hin«, sagte der Mann. Dann öffnete er die Tür, und wir betraten einen kleinen Raum. Ein leichter, gazeähnlicher Vorhang bedeckte das kleine Fenster über Selims Bettlager. Niemand hätte ihn erkannt, der ihm nicht schon vor mindestens zwanzig Jahren einmal begegnet war. Obwohl es drinnen sehr heiß war, hatte er sich bis zum Kinn in eine grobe Decke eingewickelt, auf der seine beiden großen, noch immer ganz und gar schwarzen Hände ruhten, so als hätte er das Pech seit unserer letzten Begegnung nicht mehr von ihnen abgewaschen. Ich setzte mich am Fußende auf sein Bett, während mein Lotse noch an der Tür stand, sicher, um zu erfahren, wer ich wohl war und was es mit meinem Besuch auf sich hatte. Ich nahm Selims Hand, sie war schwer, monströs, fühlte sich an, als sei sie voller Beulen, ausgefüllt mit einer schweren Masse, mit wild wucherndem Fleisch, das sich an seiner Handwurzel staute.
»Kein einziges Medikament hilft mehr«, sagte er. »Ich habe die Ärzte gebeten, dass sie mir beide Hände abhacken.«
»Schneid sie dir doch selbst ab«, sagte der Lotse und fing an, Grimassen zu schneiden und vor sich hinzukichern.
Selim sah jetzt zum Nachbarn hinüber, hob dann langsam seine schwere Hand und machte zwei, drei Bewegungen mit
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