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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Schweigen, das es nur zwischen Menschen gibt, die einander nicht erkennen und die früher befreundet waren. Er wollte ihn nicht auf die Folter spannen, um ihn so dazu zu bringen, sich an ihn zu erinnern, also sagte er ohne Umschweife: »Ich stamme von den Muslimen ab.«
    Sie lachten zeitgleich auf, rannten aufeinander zu und umarmten sich, dann nahmen sie Platz im Schatten einer großen Eiche, deren Krone satt und wuchtig durchwachsen war. Selim trank aus einer Soldatenflasche einen Schluck Wasser.
    »Ich bin der Einzige, der aus meiner Familie durchgekommen ist«, sagte er. »Da drüben, in der Ecke, da liegen alle meine Leute.« Er zeigte mit dem Finger auf den neu entstandenen Teil des Friedhofs.
    »So viele Menschen sind umgekommen«, sagte mein Vater.
    »Ach mein Guter, ja, Unzählige. Dieses Mal sind es so viele wie nie zuvor«, sagte Selim. »Wir Muslime wurden von den einen und von den anderen getötet. Und was noch schlimmer ist: Wir haben uns auch untereinander nach dem Leben getrachtet. Wenn ich das so recht bedenke, dann ist dieser Friedhof nicht einmal groß genug … er müsste dreimal größer sein.«
    »Mir ist es auch nicht besser ergangen«, sagte Vater, »und ich bin nicht einmal Muslim.«
    »Ich weiß schon, damit wollte ich nichts Bestimmtes sagen«, sagte Selim. »Es tut mir leid, wir waren doch wie Brüder … unsere Familien waren immer befreundet. Und es verbinden uns noch immer Patenschaften von früher.«
    »Von meinem jüngeren Bruder Nikola wissen wir noch nichts«, sagte mein Vater.
    »Ist das so? Bei Allah, das tut mir von ganzem Herzen leid.«
    »Nichts, rein gar nichts, nur ein paar Geschichten gibt es, natürlich behaupten ein paar Schlaue, alles zu wissen.«
    »Von Blago habe ich aber gehört«, sagte Selim, »er lebte in jenem schönen Haus in Trebinje. Man sagt, er sei vor Scham umgekommen, wegen seiner Mutter und ihrer rätselhaften Niederkunft.«
    »Ach das, das ist alles in Ordnung. In allerbester Ordnung«, sagte Vater.
    »Ist das so? Gott sei Dank, das freut mich sehr zu hören«, sagte Selim.
    So blieben sie noch eine ganze Stunde miteinander unter dem Baum sitzen. Vater hörte achtsam Selims Ausführungen über die unterschiedlichen Steine zu, aus denen er die Grabplatten meißelte. Er brachte ihm einige Stücke, erklärte ihm an den einzelnen Beispielen die Eigenschaften der Steine, brachte sie ihm wie etwas Kostbares und Seltenes, und wenn mein Vater einen der Steine berühren wollte, blies er erst den Staub für ihn weg. Er war nicht nur ein Meister und ein Steinmetz, wie es sie schon immer in diesen Gegenden gegeben hat, er war auch ein genauer Kenner seines Materials, jemand, der die Geschichte im Auge behielt, der auch alles über Architektur wusste, jemand, der den Stein besingt, während er ihn bearbeitet. Doch all das war er auch schon als ganz junger Mann gewesen, er hatte es bei den Alten gelernt. Er liebte alles Handwerkliche, alles Sichtbare und Berührbare. Man konnte diesen Platz einfach nicht überqueren, ohne einen Blick auf den Friedhof zu werfen, und das hieß natürlich, dass man Selim nicht übersehen konnte.
    »Jede Gegend hat ihren eigenen Stein, der sich am besten für die Grabplatten eignet, und jeder Steinmetz hat eine eigene Handschrift«, sagte Selim. »Die Meister aus Foča oder Sarajevo nahmen für die Grabplatten Kalkstein, die Leute aus Jajce schworen auf Tropfstein, die Vlasener bevorzugten Tuffstein, jene aus Bihać groben grünen Dolerit, in der Gegend von Mostar kam man an Mergelstein nicht vorbei, in Stola galt das Gleiche für Aragonit, und in unserem Trebinje hielt man sich an den eingeführten mazedonischen Marmor, den man im Volksmund Skopje nannte.«

12
     
    Als ich das erste Mal Vaters Freund Selim sah, konnte er kaum seine Finger bewegen. Sie waren mit einer schwarzen, pechartigen Masse überzogen, die einen barbarischen Gestank verbreitete. Er hatte nie geheiratet. Wenn mein Vater auf Reisen war, besorgte er für Selim immer verschiedene Arzneien. Er brachte Heilsalben und Tees mit, und ich musste sie dann in Selims Haus tragen. Jedes Mal setzte ich mich wenigstens für einen kleinen Moment zu ihm. Wer auch immer vorbeikam, um ihn zu sehen, und alle Welt kam zu ihm, um ihm für die schönen Grabmäler zu danken, mit dem unterhielt sich Selim, das galt auch für kleine Kinder. Sein alles beherrschendes Thema waren Steine, Steinplatten, Steinnischen, muslimische Grabstelen, Gedenksteine, Schmuck und Grabdekoration jeder Art.
    Der

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