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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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sogar Pferde- und Tierzähne hatte man ausgestreut. Es war ein Soldatenfriedhof. Einige Jahre nach dem Krieg war dieses Stück Erde sehr beliebt und wurde mehrfach beackert, man pflügte die Erde um und stieß dabei auf die Hinterlassenschaften der Toten, es war meist noch gut erkennbar, ob sie gewöhnliche Beamte gewesen waren, Angestellte vom Bezirksamt oder Offiziere, Angehörige oder Priester der unterschiedlichen Religionen. Die Überreste der Toten wurden in viele Länder gebracht.
    Auf der anderen Seite des Flusses, unterhalb einer Anhöhe, befand sich der alte muslimische Friedhof, gleich neben den sauberen weißen Häusern und dem Vorplatz, der direkt zur Moschee führte. In meiner Kindheit liebte ich diesen Friedhof, ich ging manchmal dahin, um dort zu sitzen und zu lesen, es störte niemanden, dass ich dort Zeit verbrachte und mir die alten und neuen Gräber anschaute, die mit unzähligen Ornamenten versehen waren; dort befanden sich auch die zwei Mausoleen, und zwar in jenem Teil des Friedhofs, den man mit dem Wort sehit bezeichnete. Nie kam ich auf den Gedanken, mich mit diesem Wort zu beschäftigen. Ich hatte irgendwo einmal über einen solchen sehit -Friedhof gelesen, aber kann mich nicht mehr an die Bedeutung des Wortes erinnern. Alles ist im Nebel meines Gedächtnisses verschwunden, vielleicht weil ich freiwillig meine Geburtsgegend und damit auch ihre Geschichte verlassen habe. Und das hier ist mein vorläufig letztes Buch, das sich mit dem Thema Herkunft beschäftigt, ich sage das in vollem Bewusstsein, obwohl ich das schon einmal getan haben und mir ungefähr seit der zweiten Hälfte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts immer wieder Menschen aus meiner Geburtsgegend begegnet sind, die mir von solchen Ankündigungen abgeraten haben, denn sie verstanden das als eine Aussage gegen sie, ich sollte nicht aufhören, über sie zu schreiben. Es waren Leute unterschiedlichen Glaubens darunter, die alle davon überzeugt waren, dass ich an diesen Themen dranbleiben und weiterschreiben musste, denn, so hieß es, der Himmel habe doch schon einmal Tote zum Leben erweckt. Aber daran glaubte ich nicht. Ich blieb bei meiner Perspektive, der Geschichte waren schon viele Tote zum Opfer gefallen – wer könnte sie noch zum Leben erwecken? Es ist nicht möglich, Staub und Asche in etwas Lebendiges zu verwandeln. Außerdem glaube ich, dass ich ohnehin bald nicht mehr schreiben können werde, das ist eine logische Konsequenz und muss nach all den Mühen des Schreibens und dem mit ihm verbundenen Durchforsten der Abgründe auch einmal kommen. Im Großen und Ganzen ist es nicht gerade sinnvoll, sich auf das Talent zu berufen und es bei diesen Betrachtungen in den Vordergrund zu stellen, es verschwindet doch letztlich wie alles andere auch, auch die Begabung wird regelrecht ausgelöscht, weswegen man am Ende seines Lebens nicht einmal mehr sicher sein kann, ob das eigene Echo zu einem gehört oder nicht.
    Mein Vater hat als junger Mann mit der gleichen aufgeregten Begeisterung den muslimischen Friedhof aufgesucht wie ich; im unteren Teil des Ortes war ein neuer Friedhof entstanden, er reichte nun an den Wegesrand heran. Eine Menge Grabtafeln waren zu sehen, die aus hellem Holz geschnitzt waren. Und am Zaunrand sah man ein Lager für die verschiedenen Steine, die später zu Grabplatten verarbeitet wurden. Ein ungeschickt errichtetes Arbeitshäuschen stand dort, hier traf mein Vater auf seinen alten Schulfreund Selim Cerimagić. Die beiden waren früher unzertrennlich gewesen und kannten sich noch aus der Grundschule, spielten immer am gleichen Flussufer und ähnelten einander so sehr, dass man sie hätte für Geschwister halten können. Deswegen wurden sie auch immerzu von den Leuten geneckt. Über meinen Vater hieß es, er stamme von den Muslimen ab, und Selim, der ein Muslim war, sah in ihren Augen aus wie ein christliches Kind.
    Jetzt betrachtete mein Vater diesen jungen Mann, der sich in diesem Augenblick über einen Haufen Steine beugte. Auf dem Kopf trug er eine staubige Schirmmütze, auch seine Kleidung war staubig und voller Flecken. Seine beiden Hände waren stämmig und stark, sein ganzer Körper wirkte wie ein Teil der Erde. In seinem Mundwinkel brannte eine Zigarette. Jetzt ähnelten sie einander nicht einmal im Ansatz. »Bist du Selim?«, fragte mein Vater. »Ja, das bin ich«, sagte der andere. »Ich bin der Steinmetz-Selim. Und wer bist du?« Mein Vater schwieg eine Weile, es war jenes typische

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