Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
nach Hause kam. Als er diese Geschichte hörte, rief mein Vater Dr. Kesler, der sich das Neugeborene genau anschaute und daraufhin sagte: »Sie haben keineswegs ein Monstrum zur Welt gebracht. Es ist ein durch und durch gesundes Kind. Es freut sich und lächelt, es weint nicht, weil es nicht weinen will, es hat seinen eigenen Charakter. Ich mag ohnehin keine Kinder, die wegen allem heulen, und dieser Kleine hier, der ist jetzt schon stärker als jeder Schmerz.«
Nachdem sich der jüngere Bruder Nikola in Dubrovnik nach Ancona eingeschifft hatte, mit dem Ziel, weiter nach Amerika zu reisen, war Blago aus dem Haus seiner Mutter ausgezogen und hatte sein eigenes Haus in Trebinje gebaut. Er begann, sich in einem eigenen Leben zurechtzufinden, unterrichtete hier und dort Kinder, vermietete erst einzelne Zimmer zur Übernachtung, dann das halbe Haus an einen Italiener, einen jungen Bauingenieur, der Fachmann für Brückenbau war. Er hieß Silvano, er war ein schöner Mann, still und bescheiden und mit einem in sich gekehrten Gemüt; nach der Arbeit auf dem Gelände kam er in seinen Teil des Hauses zurück, setzte sich an den Zeichentisch und arbeitete bis in die späten Abendstunden hinein. Der einzige Mensch, mit dem sich dieser verschwiegene junge Mann anfreundete, war mein Onkel Blago. Und nach nur kurzer Zeit hatten sie nicht mehr das Verhältnis eines Mieters und Vermieters, vielmehr entstand zwischen ihnen eine wirkliche feste Freundschaft, sie kochten und aßen zusammen, sonntags reisten sie in der Frühe nach Dubrovnik und kamen mit dem Abendzug zurück nach Hause. Um etwas mehr Geld zu verdienen, kamen sie auf die Idee, auch das Erdgeschoss und Silvanos Anteil unter dem Dach zu vermieten. Die beiden lebten zusammen im bescheideneren Teil des Hauses.
Diese Freundschaft war durchweg rührend und außerdem ganz anders als die anderen unsteten Freundschaften dieser Gegend, die so schnell von einem auf den anderen Moment zerbrechen konnten. Zwischen ihnen fiel kein falsches Wort, sie erhoben nie die Stimme gegeneinander, alles entwickelte sich irgendwie achtsam und ruhig und war harmonisch und zärtlich zugleich. Sie genossen es sichtlich, miteinander zu leben. Mein Vater erzählte mir, so etwas habe man vorher noch nie gesehen, das sei geradezu eine Liebesgeschichte gewesen, wie man sie sonst von jungen Männern und jungen Frauen kannte, nicht aber von zwei Männern verschiedener Kulturen, die sich auch noch vom Alter her unterschieden. Silvano war bestimmt zehn Jahre älter, aber das störte die beiden überhaupt nicht, denn er hatte einfach die natürliche Fähigkeit, einen jüngeren Menschen, so wie er war, zu lieben und zu respektieren. Also stellten weder Herkunft noch Erziehung irgendeine Art von Hindernis für sie dar, weil sie etwas Reineres gefunden hatten, etwas, das man nicht zerstören konnte. Wenn sich alle Menschen so aneinander freuen könnten, dann könnte man das Wort Wunder im Mund führen. Blago lernte sehr bald Silvanos Sprache, und die beiden unterhielten sich immer öfter auf Italienisch, wenn sie unter sich waren, aber auch, wenn die Gesellschaft der anderen irgendwie unangenehm für sie wurde. Hin und wieder wurde diese Idylle von plötzlich aufblitzender Eifersucht gestört, aber sie führte nicht zu ernsthaftem Streit oder gar zu Beschimpfungen, legte sich auch nicht wie eine Krankheit über sie, im Gegenteil, sie festigte nur noch mehr ihre Beziehung; sie schimpften dann ein bisschen herum, aber nur kurze Zeit später sprachen sie schon wieder still und besonnen miteinander, waren sogar fröhlich beschwingt, belächelten einander wegen der Eifersuchtsszenen, machten auch kleine Witze über die Menschen, die Ursache dieser zwischen ihnen entstandenen Unruhe gewesen waren. Und am Ende war ihre Freundschaft immer wieder aufs Neue gewachsen.
Blago wartete auf seinen Bruder, der als Ältester die Verantwortung für alle Familienbesitztümer übernommen hatte. Die Familie war schon damals zerstritten, aber das Oberhaupt konnte in Einzelfällen entscheiden oder wenigstens Einfluss darauf nehmen, dass es mit uns wieder bergauf ging. Die einzige Auflage dabei war, Großvaters Willen zu respektieren. Die Begegnung der Brüder im Haus von Trebinje war zurückhaltend und unterkühlt. Sie lief nahezu wortlos ab, es geschah nichts, das darauf hätte hinweisen können, dass zwischen ihnen auch nur ansatzweise eine Verwandtschaft bestand. Vermittelnde Sätze kamen nicht vor, nichts, das gezeigt haben
Weitere Kostenlose Bücher