Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
von grober Natur waren. Dann hieß es, all seine Kraft, sein Wissen, sein ganzes Erinnerungsvermögen, alles ruhe in seinem Buckel, er trage seine Gene wie ein Reservoir in seinem Rücken mit sich und habe auf diese Weise Mitgefühl entwickelt, fühle die Trauer und den Schmerz aller Helden, die einst unter Qualen gestorben waren oder von osmanischen Bösewichten hingerichtet wurden. Aber dieses Lob hatte seine Tücken, es verwandelte sich schnell in Häme, und Ivo versuchte ihren Blicken zu entkommen und sich in irgendeinem Winkel zu verstecken. So sind wir; mit Leichtigkeit vollziehen wir den Übergang vom Drama in die gemeine Possenreißerei.
Der buckelige Ivo hatte alles für die Taufe arrangiert, aber es ergaben sich Schwierigkeiten, einen bereitwilligen Priester zu finden, das war alles andere als einfach. Ivo bezahlte ihn aus eigner Tasche, er hatte immer kleine Ersparnisse, auf die er dann zurückgriff. Den Kleinen nannte er Anđelko und ließ ihn in den Kirchenbüchern registrieren. Man versteckte diese Bücher in einer alten Gruft, damit sie nicht verbrannten, denn viele Kirchen und Gemeindehäuser waren in dieser Zeit in Brand gesetzt und gänzlich zerstört worden. Diese Bemühungen, es Gott und den Menschen recht zu machen, wurden von den Leuten zu seinen Ungunsten ausgelegt, man glaubte nur noch fester daran, dass Ivo der Vater des Kindes war. Man fragte sich, warum er sich sonst derart ins Zeug legte, sich um das Kind seines Bruders zu kümmern, der nie ein gutes Haar an ihm gelassen hatte. Ivo war sich durchaus bewusst, dass diese Geschichten die Runde machten, sie waren längst zu ihm gedrungen, und die Hinterhältigkeiten trafen ihn hart. Er ging eines Tages ins Erdgeschoss und setzte sich auf die Couch seines Bruders, nahm genau dort Platz, wo dieser selbst so lange wie auf einem Thron gesessen und die Geschicke der Familie gelenkt hatte. Genau an diesem Platz schnitt Ivo sich mit einer Rasierklinge die Kehle durch. Das war seine Antwort auf das Böse, auf die Lügen, die man sich über seine »guten Taten« erzählte. Aber die Leute in L. rückten nicht von ihrer eigenen Sicht ab. Ganz im Gegenteil, sie fühlten sich geradezu bestätigt durch seinen Selbstmord und man deutete ihn zu seinen Ungunsten. Für die anderen lag es auf der Hand, dass Schwager und Schwägerin voll und ganz gesündigt hatten.
Was kann man daraus folgern? Nach allen diesen Erfahrungen muss ich jetzt sagen, dass in unserer Welt das Gute in den Händen des Bösen liegt und dass kaum einer von uns mehr an das Gute glaubt.
In den Wirren und Nöten dieser Zeit gab es wenig Trost, nur »Mutters kleiner Engel« schien zu leuchten. Das Kind wurde in jener Zeit geboren, als seine Mutter den Ehemann verlor. Und zuvor waren ihre beiden Zwillingstöchter gestorben, danach hatte sie jene dritte Tochter verloren, die mit einem wildfremden Soldaten von heute auf morgen durchbrannte. Ihr ältester Sohn, mein Vater, war in dieser Zeit weit entfernt von der Familie und sie wusste nicht einmal, ob er überhaupt noch lebte. Zwei ihrer jüngeren Söhne wandten sich gänzlich von ihr ab, weil sie ihre Niederkunft als Sünde deuteten, Grobheiten ihr gegenüber waren an der Tagesordnung. Dann gingen sie von ihr weg und zogen fort nach Trebinje. Bald darauf verschwanden sie für immer im Nirgendwo, sie hinterließen keinen Brief und auch keinen Abschiedsgruß. Der Schwager, der immer, wie sie selbst es sagte, ihre »rechte Hand« gewesen war, beging Selbstmord. Und nur ein paar Jahre später, als sie sich gerade ein bisschen von all dem Unglück erholte, ihre Wunden und Verluste zu vergessen versucht hatte, geschah noch ein weiteres Unglück. Darüber werde ich später und zur richtigen Zeit mehr sagen. Ihre schon alt gewordenen Eltern starben im Jahre 1917 in Ravni an Hunger. Ihr Bruder fiel im Krieg.
Die Frage, die wir uns schon seit Gott weiß wie vielen Jahrhunderten in dieser Gegend stellen, ist immer die gleiche: Was kann man eigentlich noch alles überleben? Obwohl ich diese Großmutter gar nicht so übermäßig geliebt habe, beschäftigte mich ihr Leiden geradezu manisch. Ich habe schon früher über sie geschrieben und war damals noch von der Idee durchdrungen, dass die herzegowinischen Mütter höhere Wesen sind.
Mein Vater nahm sich schließlich Anđelkos Schicksal an und kümmerte sich bis zu seiner Volljährigkeit um ihn, aber er fühlte sich nie wohl in dieser Rolle des Ersatzvaters und Versorgers. Noch weniger passte es ihm, dass
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