Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Aufenthaltsorte wechseln, so kommen die einen oder anderen auf der Suche nach ihren Wurzeln an ihre Ursprungsorte zurück, wiederum andere entschließen sich, ganz in die Fremde zu gehen. Aber bei allen ihren Umzügen können sie ihre Ländereien nicht mitnehmen. Die Preise sind in solchen Zeiten nicht allzu hoch, wichtig ist ohnehin nur, dass man überhaupt irgendetwas verkaufen kann. Mein Vater nutzte die Chance, die ihm die Zeit bot, und kaufte das fruchtbare Land neben der Trebišnjica und entschied sich mir nichts dir nichts noch für zwei niedergebrannte Häuser, die einst für die Offiziere von Österreich-Ungarn gebaut worden waren. Er setzte sie wieder instand, eines renovierte er für seine Mutter und seine Schwester, das andere für seinen jüngeren Bruder Anđelko. Und im Ortszentrum von L., direkt am kleinen Marktplatz, wo alles an ein kleines ungarisches Städtchen erinnerte, pachtete er das Erdgeschoss eines zweistöckigen Hauses und bekam einen Vertrag für fünfzehn Jahre. Und in dieser Zeit betrieb er dort einen Gemischtwarenladen. Als der Vertrag abgelaufen war, zog er nach Trebinje, in Blagos Haus, denn es war ihm gelungen, es im Grundbuch unter seinem Namen eintragen zu lassen.
Was den Vorgang dieser Überschreibung angeht, so sprach man hin und wieder von einem Diebstahl, ich hörte aber wenig Greifbares, ein, zwei Wörter, mehr nicht. Vater selbst war zurückhaltend und wirkte, wann immer ich ihn darauf anzusprechen versuchte, eigenartig nervös. Aber man konnte ahnen, dass er viel Mühe und Geld investiert hatte, um an dieses Haus zu kommen. Es war ihm wohl erst dann gelungen, als Trebinje aus dem Verwaltungsbezirk von Mostar wegfiel und dem von Zetska Banovina zugeteilt wurde, die einen Sitz im montenegrinischen Cetinje hatte. Seine Freunde aus Montenegro hatten ihm also bei dieser undurchsichtigen Transaktion geholfen. Diese Banovina konnte sich durchaus rühmen, weit und breit die korrumpierbarste Justiz zu haben und außerdem einen Hang zu allerlei Mythenbildung.
14
Das Kind war vier Monate alt, als man es in aller Heimlichkeit taufen ließ. »Ohne Vater, ohne Patenonkel und ohne eine Festspeise«, so beschrieb es Vukava, die Mutter des Kindes, wenn später jemand auf diesen Tag zu sprechen kam. Der Einzige, der ihr half, war ihr buckeliger Schwager Ivo. Auf ihn hatte sich früher niemand verlassen können, deshalb war auch sie selbst, als sie noch wohlhabend war, etwas grob mit ihm umgesprungen. Sie dachte, er bringe Unglück, und ordnete an, dass er nicht an den gemeinschaftlichen Tisch heranzutreten habe, und zu essen bekam der Arme nur die Reste. Die alte Geschichte war schuld daran, die Leute erzählten sich über Buckelige, dass sie bei ihrer Geburt vom Baum gefallen waren und sich seitdem nie mehr vom Sturz erholt hatten. Und der Buckel bewies es ihnen. In jeder Familie muss es einen geben, der allein an seinem Unglück schuld ist, auf diese Weise werden die Kinder kontrolliert und zurechtgewiesen, damit sie auf die Älteren hören und nicht auf Bäume klettern und auch nicht in den Fluss springen, wenn er reißend und kalt ist, das Innere der Höhlen musste von den Kleinen auch gemieden werden, sonst, sagte man ihnen, warte das gleiche buckelige Unglück auch auf sie, das unserer Familie bereits widerfahren war.
Mein Vater aber sprach seinem Onkel göttliche Eigenschaften zu, nannte ihn einen Engel, der nur anstelle der Flügel einen Buckel bekommen hätte. Trotz seiner Behinderung war er immer frohgemut, lächelte immer freundlich und war außerdem, obwohl er keine Schulausbildung hatte, von Natur aus sehr klug. Er lernte ganze Heldenepen auswendig und ließ diese in seinem wölfisch anmutenden Gesang lebendig werden; er begleitete sich dabei selbst auf der Gusle, einem traditionellen einsaitigen Instrument, und war darin allen anderen Familienmitgliedern mindestens ebenbürtig. Wann immer man beisammensaß, wann immer ein Fest gefeiert wurde, ganz gleich ob es ein religiöser oder ein staatlicher Feiertag war, trat Ivo mit der Gusle auf. Er saß auf einem Stein, hielt die Gusle zwischen den Knien, spielte darauf und sang. Er schickte Helden auf Reisen und rief in seinen Liedern zu Schlachten auf; jede Silbe im rhythmischen Einklang mit den Lauten seines Instruments. Die Frauen weinten vor Rührung und die Männer waren beeindruckt von seiner kernigen Stimme, es erstaunte sie, dass sie aus diesem kleinen Körper kommen konnte. Man machte oft Witze über ihn, die meistens
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