Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
könnte, dass sich einer von ihnen auf irgendeine Weise entwickelt oder gar ganz verändert hätte. So ernst wurde es also nicht. Es gab auch keine neugierigen Rückfragen, die konkretes Interesse an dem anderen gezeigt hätten, so etwas wie eine Frage nach der Zeit im Krieg und wie sich der eine oder andere durchgeschlagen, wie er überlebt hatte. Aber auch die Zukunft blieb ausgespart. Vielleicht wollten sie sich das für eine andere Begegnung aufheben. Jetzt war das Einzige, was mein Vater von seinem jüngeren Bruder verlangte, dass er ihm zuhörte und mit ihm nach L. kam. Er sollte der Mutter Freude machen und sie überraschen, sollte den kleinen Anđelko besuchen, aus der Wiege zu sich nehmen, ihn zärtlich liebkosen und damit zeigen, dass er an seiner Geburt nichts Anstößiges mehr fand.
»Ich soll ihn zärtlich liebkosen? Soll ich mich hier vor dir erbrechen, oder was?« Blago war unversöhnlich.
»Das ist unser Bruder«, sagte mein Vater.
»Halbbruder«, erwiderte Blago.
»Auch ein Halbbruder ist ein Verwandter! Und auch ein Bastard ist ein Mensch! Würdest du Mutter etwa nicht verzeihen, wenn sie wirklich gesündigt hätte!«, sagte mein Vater mit erhobener Stimme.
»Da gibt es nichts zu verzeihen, ich bin doch kein Priester. Ich komme mit etwas zurecht oder ich lehne es ab, verstehst du? Das ist alles. Das ist meine Haltung zur Familie. Und wenn ich ehrlich sein soll, ich liebe unsere Mutter überhaupt nicht, meinen ganzen Stammbaum liebe ich nicht. Ich kann nicht wirklich auf irgendetwas stolz sein. Es beschämt mich sogar, dass ich von diesen Leuten abstamme, ein Kataklysmus wäre mir mehr als recht, etwas, das alle meine Spuren komplett verwischt. Und für uns, für dich und für mich, ist es besser, wenn wir voneinander überhaupt nichts erwarten«, sagte Blago.
Kurz nach dieser Auseinandersetzung ist Blago mit Silvano nach Italien abgereist; er hat sich nicht von seiner Mutter verabschiedet, er hat nicht den kleinen Bruder zärtlich liebkost, dem Familienoberhaupt hinterließ er überhaupt keine Nachricht, er ließ niemanden wissen, wohin er gehen, wie lange er bleiben wollte, noch was er eigentlich genau vorhatte. Vater versuchte in den ersten Jahren ein paar Mal, die Spuren seines Bruders zu verfolgen, aber er tat es nicht nachhaltig genug, schickte nur einmal einen Anwalt aus Dubrovnik nach Rom, der sich gerne mit detektivischen Aufgaben durchschlug. Danach tat die Zeit das ihrige dazu, es schien, als habe sich dieser Angehörige für immer aus unserer Familie hinausgeschrieben. Der einzige Brief, den mein Onkel auf durchsichtigem Kopierpapier schickte, war mit Tusche geschrieben, auf Italienisch und also von keinerlei Nutzen. Es half uns nichts, dass der Übersetzer und Graphologe Marko Pilj uns die Echtheit seiner Schrift bestätigte, das Ganze für meinen Vater Wort für Wort übersetzte, denn es kam ein Selbstlob dabei heraus, das darin bestand, dass er sich als den besten Studenten weit und breit beschrieb, der nun Staatsstipendiat auf der medizinischen Fakultät in Rom war. Der Advokat schnüffelte in den Büchern der Fakultät herum, blätterte auch im Studentenverzeichnis, um dann nach elend langer und dementsprechend erfolglos gebliebener Suche zu begreifen, dass sich Blago offenbar unter einem erfundenen Namen eingeschrieben hatte und auf der Flucht vor seinen Wurzeln, seiner Verwandtschaft und seiner Muttersprache war. Hin und wieder vernahmen wir das eine oder andere über ihn, aber es waren keine Nachrichten, die ernsthaft und aus zuverlässiger Quelle gewesen wären, und irgendwann gab es nichts mehr, nicht einmal Gerüchte. Sein Schicksal blieb uns gänzlich unbekannt.
Was aber könnte man das Bleibende nennen, was konnte in uns von ihm übrig geblieben sein? Vielleicht nur jene doppelbödige Erzählung vom Beginn des Buches, die natürlich auf wackeligen Beinen steht, wie alle Mutmaßungen. Man könnte das Wort »wackelig« auch durch das Wort »literarisch« ersetzen, die Imagination war schon seit jeher die ebenbürtige Schwester der Wirklichkeit. Wenn wir uns der Fiktion als der spielerischen Wahrheit anvertrauen, dann können wir davon ausgehen, dass wir doch etwas über Blago erfahren haben.
Mein Vater war jetzt der Einzige, der unser Vermögen verwaltete, ihm gehörte alles und er war es auch, der den Überblick über unsere Finanzen hatte. Unser Besitz war an einen Ort gebunden, unbeweglich, aber so, wie Menschen nach den Kriegen in andere Gegenden ziehen und ihre
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