Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
neben dem Ofen.
Meine Lehrerin Jozipa B. war dreiundzwanzig Jahre alt, sie war wunderschön und trug ganz oft einen Turban aus gewöhnlichem Stoff. Die Leute tuschelten über sie und sagten, dass ihr die Haare ausfielen, dass sie an einer unheilbaren Krankheit litt. Und auch meine Mutter erzählte mir, dass Jozipa in unsere Gegend wegen der schönen Natur versetzt worden war, damit sie hier vom Gedanken an den Tod abgelenkt werde. Einmal fand ich sie in ihrer Wohnung ohne Turban vor, ihr Haar reichte bis zu ihrem Busen. Es war allerdings spröde, ohne irgendeinen Glanz, als gehörte es gar keiner lebendigen Person, dennoch hatte es eine gewisse Fülle, es war auch ordentlich gekämmt. Sie stellte ihre Füße auf eine Holzbank und entblößte ihre Knie, dann nahm sie mich in Augenschein und berührte mit ihren Fingerkuppen in wiederkehrenden Bewegungen ihren feuchten Mund. »Willst du mich mal an den Haaren ziehen?«, fragte sie mich, und ich lachte aufgekratzt, ich war gut gelaunt und fröhlich, zögerte aber. »Na komm schon, zieh mich schon an den Haaren«, sagte sie. Und ich fasste mit der vollen Hand in ihr Haar, zog daran und hatte plötzlich das ganze Haar in der Hand, hatte es ihr vom Kopf gerissen. Ich sah auf das tote Haar in meiner Hand – eine Perücke. Ich weiß nicht mehr, ob ich geschrien habe, aber als ich den nackten Schädel meiner Lehrerin sah und ihre Perücke in meiner Hand hielt, überkam mich das blanke Entsetzen. Sie lachte und massierte mit langsamen Bewegungen ihre Kopfhaut, so als würde sie diesen Moment genießen, die Spreu war nun vom Weizen getrennt.
Ich weiß nicht, warum, aber ihr nackter Schädel beunruhigte mich zutiefst. Ihr Kopf kam mir auf einmal so zerbrechlich und rührend klein vor. Da pulsierte doch Leben in diesem Schädel! Er war sonst immer mit einer Perücke bedeckt, aber es blieb noch immer ein menschlicher Kopf. Ich war zwölf Jahre alt und dachte in jenem Augenblick nur an den Tod. Ein Satz nistete sich damals in mir ein, der Tod kommt ja, dachte ich, wie die Stille kommt.
22
Im Haus meiner Großmutter Jelica befand sich ein schöner alter Spiegel. Er unterschied sich von den anderen Gegenständen nicht nur wegen seiner luxuriösen Aura, sondern auch durch die Geschichten, die sich um diesen Spiegel rankten. Mein Großvater Tomo wusste seinerzeit sehr viel über den Spiegel, nach L. hatte man ihn als Brautschatz geliefert. Die Vorfahren seiner Mutter Petruša waren berühmte Glaser, eine Epidemie des Schwarzen Todes hatte sie einst alle niedergemäht, und es dauerte ein halbes Jahrhundert, bis sich das Familienhandwerk davon erholen konnte. Petruša erzählte uns, dass sich noch heute einzelne Glasarbeiten im Besitz vermögender Familien befinden und ihre Spuren bis nach Konstantinopel reichen.
Der Spiegel, den sie als Brautgeschenk erhielt, ist bei einem Notar in Dubrovnik verzeichnet, es war ein Einzelstück, das einer ihrer Vorfahren gefertigt hatte. Als Petruša mit achtundneunzig Jahren im Sterben lag, traf es sich, dass ich gerade bei ihr war. Nur einen Augenblick vor ihrem Tod bat sie mich, sie mit Wasser aus einem schönen kleinen Kristallgefäß zu beträufeln.
Der Spiegel war eine Art Magnet des Hauses, alle anderen Gegenstände, die später dazukamen, scheint er nach sich gezogen zu haben. Meistens hatten die Flaschen unterschiedliche Formen, es waren gedungene und durchsichtige dabei, die wie Zwerge aussahen, aber auch schlanke tropfenartig geformte Schmuckflaschen, mit Flechtwerk versehene und bauchige Flaschen, die wir Kürbis- oder einfach nur Korbflasche nannten. So wie die Flaschen neue Wörter in unser Leben brachten, ein Wort wie Karaffe zum Beispiel, so hatte auch mit meiner Urgroßmutter, einer einfachen und ungebildeten Frau, der Hauch einer anderen Welt bei uns Einzug gehalten, der sich noch immer auf ihre Nachfahren auswirkte. Viele von uns sind in alle Himmelsrichtungen fortgegangen, viele waren intelligent, gebildet, begabt, Künstler und Ärzte waren unter ihnen, aber auch Juristen, sogar hochgestellte Offiziere in der amerikanischen Armee.
Großvater Tomo hatte eine Unmenge von Geschichten über den Spiegel zur Hand; ich glaubte ihm alles und hörte ihm gerne zu, obwohl seine Mutter Petruša oft genug sagte, er sei ein Lügner und denke sich im Grunde alles aus. Auf mich wirkte er aber überzeugend, vielleicht, weil er selbst an alles glaubte, was er uns erzählte. Niemand hörte ihm so aufmerksam zu wie ich, Großvater wusste das
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