Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Nacht heiß. Tagsüber hatte mich Großvater weit vom Haus weggeführt und zu einer Stelle gebracht, an der sich die satten Schatten der Bäume dem brennenden Flirren des Sommers widersetzten. Wir trugen zwei Soldatenflaschen mit uns, randvoll mit Wasser, das aber schon lauwarm war, mit kleinen Ästchen und Blättern hatten wir uns die Köpfe bedeckt, um uns vor der Hitze zu schützen. Plötzlich sprach mein Großvater in die Stille hinein. »Heute suchen wir etwas«, sagte er, »was ich vor langer, langer Zeit verloren habe.«
Was das genau war, konnte er mir nicht näher beschreiben, aber er sagte, es sei ohnehin noch nicht an der Zeit, mit mir darüber zu reden, die Sache sei komplizierter, als ich es mir vorstellen könne. Er hielt die ganze Zeit meine Hand, und immer wenn wir über einen kleinen Graben springen mussten, hob er mich in die Luft und trug mich sicher auf die andere Seite. Bei meinen neugierigen Fragen hielt er sich weise zurück, lächelte dabei, und immer wenn wir durchatmeten, setzten wir uns auf die Erde und nahmen einen Schluck Wasser aus der Flasche. Bald erreichten wir eine Anhöhe und blieben stehen, wir hörten, dass plötzlich jemand das Horn blies. Großvater erzählte mir, dass sich an genau dieser Stelle, an der wir jetzt standen, ein See befunden hätte. Vor langer Zeit sei er ausgetrocknet, aber auf seinem Grund, das sehe man immer, wenn auch das Regenwasser sich zurückziehe, hätten unzählige Skelette gelegen, Tierskelette, aber auch ganz kleine Kinderskelette, denn die Sünderinnen hätten sich ihrer Neugeborenen entledigen müssen und sie dann kurzerhand in den See geworfen. »Aber all das ist so lange her, dass wir nicht wissen können, ob es tatsächlich der Wahrheit entspricht«, sagte Großvater.
Dann begriffen wir endlich beide, dass das Horn irgendwo in der Erde war und zu uns hinauftönte, es kam direkt von jener Stelle, an der einst der See gewesen war. Ein kleiner Pfad führte von der Anhöhe in das Becken hinein, wir gingen an den Salzsteinen vorbei. Vielleicht hatte vor Urzeiten ein unterirdischer Meeresarm hierhergeführt, denn wie hätte man sich das Salzvorkommen sonst erklären können? An den Abenden sah man schon seit jeher eine Menge Schafe, die auf den großen Steinen saßen und akribisch an ihnen leckten. Dieser Weg war eigentlich eine Abkürzung, die wir immer nahmen, wenn wir nach Hause gingen. Wir waren schon müde, die Hitze hatte uns zu schaffen gemacht, dann entdeckten wir in der Ferne unser schönes zweistöckiges Steinhäuschen, mit einer Zisterne neben ihr, die breiten, prächtig gewachsenen Baumkronen beschirmten in Teilen das Anwesen. All das war auch mein Erbe, da stand es, das Haus, in dem ich das Licht dieser Welt erblickt hatte. »Mir kommen immer die Tränen, wenn ich aus der Ferne mein Haus entdecke«, sagte mein Großvater.
Diesen Tag werde ich nie vergessen. Immer wenn ich anderen von unserem Ausflug erzählt habe, fragte sich jeder, was Großvater wohl dort bei den Salzsteinen gesucht hatte. In dem Buch »Die Anthropologie des Todes«, das ich mir in einem Antiquariat gekauft habe, stand, dass wir alle unbewusst den Tod als etwas suchen, das wir einmal verloren haben. »Die einen finden ihn früher, die anderen später«. Aber das ist natürlich nur Gedankenspielerei, eigentlich glaube ich bis heute, dass mein Großvater irgendeinen konkreten kleinen Gegenstand gesucht hat, denn er war in dieser Landschaft zu Hause und war viele Male dort vorbeigekommen. Er hatte die eine oder andere Kostbarkeit bei sich, er hätte sie gut unterwegs verlieren können.
Auch mir ist es einmal passiert, dass ich nach zwanzig Jahren an einen Ferienort zurückgekehrt bin und mit meiner Schuhspitze an einer bestimmten Stelle die Blätter zur Seite geschoben habe, weil ich hier als junger Mann etwas Wichtiges verloren hatte, es war ein Andenken, das mir viel bedeutete und das ich nach all den Jahren gerne wiedergefunden hätte.
An jenem Abend saßen wir zu dritt am Tisch. Der Mond schien hell und erleuchtete die Spitze des westlichen Berges. Und als meine Großmutter das Essen auf den Tisch stellte, schauten Großvater und ich durch das offene Fenster hinaus und sahen, dass ein Ast sich eigenartig bewegte, ja dass er uns regelrecht zuwinkte, obwohl draußen nicht der Hauch eines Windes zu vernehmen war. Großvater war beunruhigt, er hatte vor ein paar Tagen alle Äste gestutzt, die ihm den Ausblick verstellten. »So schnell können sie doch gar nicht
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