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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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und führte mich deshalb häufig auf die Felder oder zur Quelle und erzählte mir stundenlang über den Spiegel, sagte, er könne auf die gleiche Art und Weise wie ein Fluss fließen und irgendwann auch trüb werden. In seiner Kindheit habe er mehrere Male wellenähnliches Getöse im Zimmer gehört, es sei aus dem Spiegel gekommen und hätte sich beruhigend auf ihn ausgewirkt. Es gab auch Augenblicke, in denen der Spiegel sich allen verweigerte und sich niemand im Spiegel sehen konnte, oder das Gesicht zeigte sich nur stückweise, nur eine Hälfte des Gesichtes.
    Am meisten liebte ich es, wenn Großvater die Geschichte von der abendlichen Sonne erzählte, die sich im Spiegel ergoss, wenn sie in L. an der höchsten Stelle zu sehen war und in jenem Moment, in dem sie den Rand des westlichen Berges streifte, im Spiegel die Umrisse von Dubrovnik zu sehen waren, ein nachwirkendes Zittern, das sich mit dem Verschwinden der Sonne auch im Spiegel in Nichts auflöste. Der Spiegel bewahrte alles, speicherte alles, was sich vor ihm ereignete und in seinem eigenen Gedächtnis einschrieb. Nicht das äußere Auge, nur das innere Auge erhascht etwas von seiner florierenden Fülle. Der Spiegel also war eine große Erzählung, er behütete auf seine Art alle ihm gezeigten Wangen.
    Ich war fest entschlossen, diesen zerrinnenden Augenblick, in dem Dubrovnik im Spiegel aufblitzte, zu sehen und wartete stundenlang, wartete, dass die Sonne den Berg streifte und dann jener besondere Moment kam, der eine leichte Gänsehaut verursachte. Die Strahlen blendeten mich und im Spiegel erschien das Sonnenfluten, in diesem Augenblick sah ich die Umrisse der berühmten Stadt, ihre Mauern, ihre Türme, und Orlandos Säule ragte aus dem Gemäuer heraus, hoch in die Luft erhob sie sich, erschien mir und ging dann wieder zur gleichen Stelle zurück. Als ich Großvater meine Vision beschrieb, sah er mich zweifelnd und ungläubig an, so als ertappte er mich bei einer Lüge oder bei einem Diebstahl, als hätte ich mir unrechtmäßig irgendein magisches Wissen angeeignet, das nur ihm gehörte, dann sah er mich lange an und sagte etwas für mich sehr Rätselhaftes. »Auch ich sehe jetzt einen Teil der Stadt in deinen Augen.«

23
     
    Immer wieder wurde ich aufgefordert, die Geschichte vom Tod meines Großvaters Tomo zu erzählen. Meine Mutter drängte mich dazu, sie wurde nicht müde, meinen Sätzen zu lauschen. Sie war regelrecht besessen davon, die gleiche Geschichte immer wieder zu hören, offenbar versuchte sie auf diese Weise, den Tod ihres Vaters zu überwinden. Ich glaube, dass ich die Geschichte jedes Mal gut erzählt habe und auch jedes Mal aufs Neue sehr aufgeregt dabei war. Der Tod kam mir beim Erzählen jedes Mal vor wie ein Teil der Unendlichkeit, wie ein Verwandter von der Leuchtkraft des Mondes. Ich stellte mir den Tod als eine unsichtbare Hand vor, die meinen Großvater von uns weggezogen hatte. Mutter und ich sahen beide zeitgleich mitten in meiner Erzählung zwei Schatten, die sich in der Ferne Richtung Horizont bewegten. Sie waren sehr schnell verschwunden, sodass wir ihnen nicht einmal etwas hätten nachrufen können.
    Als ich schon mit dem Schreiben begonnen hatte, im Alter von zwanzig, fiel mir ein gebundenes Buch mit Goldschnitt in die Hände. Es hieß »Anthropologie des Todes«. Als ich es aufschlug, sah ich als Erstes den Sensenmann, das Todessymbol an sich. Es zog mich in ein Kapitel, in dem der Autor betonte, dass jeder von uns die Struktur seines Lebens früher oder später wiederholen müsse, um die Struktur unserer Erlebnisse zu verstehen, damit auch wirklich alles seine Richtigkeit bekäme, denn vieles, was wir als erlebte Fakten verbucht hätten, sei in dieser Absolutheit gar nicht richtig. So etwas musste auch meine Mutter geahnt haben, als sie mich dazu drängte, die Geschichte vom Tod ihres Vaters immer wieder zu erzählen. Dieser Tod nahm einen der wichtigsten Plätze in unserem Familienalbum ein, vielleicht sogar den ersten, das äußerte ich einmal meiner Mutter gegenüber, sie war gerührt von der Zuneigung, die ich für meinen Großvater empfand, denn solche Menschen wie ihn gab es kaum noch, solche Menschen wird es lange nicht mehr geben. »Wer soll sie auch zur Welt bringen?«, sagte meine Mutter.
    An jenem Abend befand ich mich bei Großmutter und Großvater, es war Sommer und ein Feiertag, ich weiß nicht mehr, welcher Tag es war, vielleicht war es das Fest des Heiligen Elias, denn die Steine blieben auch über

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