Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
gewachsen sein«, sagte er. Vielleicht hätten wir darüber gesprochen, aber Großmutter drängte uns, mit dem Essen zu beginnen, und wir fügten uns höflich ihrer Bitte. Dann stand Großvater doch noch plötzlich auf. Im Stehen kaute er noch seinen letzten Bissen zu Ende, wischte sich mit der Hand über Mund und Schnurrbart und sagte zu uns: »Ich muss mal rausgehen, jemand hat mich gerufen. Ich muss nachschauen, wer es ist.«
»Es ist nicht besonders weise, mitten in der Mahlzeit aufzustehen«, sagte meine Großmutter Jelica.
»Esst ihr nur weiter, ich komme gleich wieder zurück«, sagte mein Großvater. »Ich werde offenbar von jemand gebraucht.«
»So solltest du nicht rausgehen, nimm ein Gewehr mit«, sagte Großmutter Jelica.
Großvater war von hoher Statur, er ging aufrecht, sein Gang hatte immer etwas Tapferes, und seine ganze Art, seine Stimme, seine Augen und sein Sinn für Humor wurden immer als überraschend empfunden, weil er doch schon so alt war. Vom Alter war bei ihm aber auch nie die Rede, er selbst vermied so etwas, und wenn man ihn fragte, wie alt er denn sei, antwortete er immer auf eine doppeldeutige Weise, mit irgendeinem Verweis, er war auf seine Art sehr raffiniert. Eine seiner häufigsten Antworten war, dass er, seitdem er fünfzig geworden war, die anschließend hinzugekommenen Jahre unterwegs verloren habe. Er ging hinaus, stellte sich auf den Hof und hob die Arme in die Höhe, wir sahen ihm heimlich dabei zu. Großmutter Jelica glaubte, es handle sich dabei um ein Ritual, und ging davon aus, dass er ein Mondbad nähme. Sein Körper war ganz vom Mondlicht beschienen, nie war das Mondlicht vorher so intensiv gewesen, und ich habe später nie wieder eine solche Nacht erlebt, die von einer Klarheit durchdrungen war, die es sonst nur am Tag gab.
Großmutter und ich aßen weiter, wir waren sogar schon beim Nachtisch, der schön knusprig war und uns im Mund schmolz. Wir aßen kleine Plätzchen, die meine Großmutter Hörnchen nannte. Die mit Marmelade gefüllten legte sie für meinen Großvater auf die Seite, neben die Schüssel und den Teller mit dem Essen, dann rief sie nach ihm, zwei Mal rief sie seinen Namen. »Komm schon wieder rein! Das Essen wird kalt«, sagte sie.
Aber Großvater Tomo reagierte nicht darauf und er stand auch nicht mehr vor dem Haus. Wir gingen beide nach draußen, aber es war keine Spur von ihm zu sehen. Gleich hinter dem Haus erhob sich eine Anhöhe, und ein kleiner Weg führte zu einer Wildbirne, unter der sich eine klare Wasserquelle befand, die für angenehme Frische sorgte. Zu dieser Jahreszeit war dort kaum Wasser zu finden, denn der Sommer war sehr trocken. Wir sahen damals zwei Schatten, die vor uns weghuschten, und dann fanden wir Großvater an der Quelle, er lag auf der Erde, seine Augen waren weit aufgerissen, das Mondlicht auf seinem Körper. Es sah so aus, als würde er noch atmen. »Renn sofort los und hol den Spiegel!«, befahl mir meine Großmutter.
Das Haus war nicht weit entfernt, und in Nullkommanichts hatte ich ihr den Spiegel gebracht, felsenfest davon überzeugt, dass es sich dabei um einen magischen Gegenstand handelte und dass Großvater sofort wieder leben würde, wenn meine Oma den Spiegel hielt und etwas sagte. Sie kniete vor ihm und hielt den Spiegel über seinen Mund, so überprüfte sie, ob er noch atmete und ob der Spiegel beschlug. Aber sie wollte sich nicht mit dem abfinden, was sie im Spiegel sah, wiederholte den Vorgang ein paar Mal, immer mit der Hoffnung verbunden, der Spiegel würde doch noch beschlagen. »Nichts, der Spiegel bleibt unbeschlagen, er atmet nicht mehr«, sagte sie, ohne Klage, ohne Tränen, sie war vollkommen ruhig, als sei sie nur jemand, der seinen Tod bestätigen musste, jemand, der wusste, was nun zu tun war und wie man mit den letzten, unverrückbaren Dingen, die jeden von uns erwarten, umgehen musste. »So, das war’s«, sagte sie noch, »jetzt werden wir nie wieder ein Wort aus seinem Munde hören.«
Zum ersten Mal sah ich, dass sie das Gesicht meines Großvaters streichelte. Ich legte den Spiegel auf die Erde, direkt neben den toten Körper. In ihm spiegelten sich die Sterne, sie schienen als Abbilder des Himmels darin zu zwinkern und zu blinzeln. Innerlich aufgewühlt sah ich diesen Lichtbewegungen zu, überzeugt davon, dass ich gleich den Moment erleben würde, in dem Großvaters Seele ihren Flug in Richtung der Sterne begönne. Während wir über Großvater wachten, sahen wir die Bewegung einer
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