Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
den Spiegel, um mir zu zeigen, dass meine neue Frisur schöner als die Mütze war und vom Wahlnussöl wunderbar leuchtete.
Im Zug konnte ich nicht an einer Stelle sitzen bleiben, rannte ständig durch die Waggons und zeigte allen Mitreisenden meinen neuen Anzug, passte aber genau auf, dass ich mich nicht irgendwo anlehnte und ihn schmutzig machte. Vater unterhielt sich mit den Leuten, er war ernsthaft und machte einen schlauen Eindruck, nicht nur auf mich, alle hörten ihm zu und nickten mit ihren Köpfen, ich glaube, es widersprach ihm auf dieser Zugfahrt niemand. Über ihren Köpfen verdichtete sich eine große Rauchwolke, weil sie eben alle fortwährend rauchten, und die kleinen blauen Kringel tänzelten vor sich hin, bevor sie durch das geöffnete Fenster im Nichts verschwanden.
Als wir an der Bahnstation ausstiegen, wollte mein Vater wissen, ob ich mich noch an den Weg erinnerte und ob ich jetzt wüsste, in welche Richtung wir gehen müssten. Ich brüstete mich damit, mit verbundenen Augen unser Haus finden zu können, obwohl mir alles ziemlich unbekannt vorkam. Ich verortete sogar den Fluss auf die falsche Seite, nur das Quaken der Frösche kannte ich noch aus dieser Stadt, die wir zu Beginn des Krieges verlassen hatten. Vater bohrte nicht weiter nach, er begriff sofort meine Verwirrung, sah, dass ich von der Stadt erschlagen war, nahm mich an der Hand und half mir auf diese Weise, mich nicht in meinen eigenen Lügen zu verstricken, aber er freute sich offenbar sehr, dass ich diese Rolle hatte spielen wollen, dass ich ihn zu unserem Haus hatte führen wollen. Er fragte mich auch nicht, ob ich unser Haus erkennen würde, als wir ihm schon ganz nah gekommen waren.
Unterwegs traf mein Vater Freunde und Bekannte von früher, manche grüßte er einfach nur, andere umarmte er und sprach mit ihnen. Sobald er stehen blieb, riss ich mich gleich los, rannte nach rechts und nach links, entdeckte ein Tor oder schaute mir ein heruntergekommenes Eckchen genauer an, stand vor der Auslage einer Straßenküche und betrachtete die Speisen. Dann flitzte ich zur Holzbrücke, lehnte mich über das Geländer und schaute hinunter, bis mein Mund vor Staunen ganz trocken war, der Fluss war noch immer da, er schimmerte grünlich. Ein Esel brach unter dem Gewicht auf seinem Rücken zusammen.
Kurz bevor wir unser Haus erreichten, zog ich die Schlüssel aus der Tasche meines Vaters heraus, weil ich die Tür öffnen wollte. Aber Vater hielt mich zurück und legte seine Hand auf meine Schultern. Am Eingang unseres Hauses sahen wir einen großen Mann stehen, er sah brüsk zu uns herüber. Dann kam eine Frau heraus, sie hatte zwei Kinder im Arm. Hinter ihnen erblickte ich eine alte Frau in einem Holzstuhl, sie lachte hämisch, drohte mit der Faust und spuckte in unsere Richtung. Um die Füße der Frau schlich eine Katze mit aufgerichtetem Schwanz. Vater sprach mit ihnen, aber der Riese verwehrte uns den Eintritt, und wenn wir mit Gewalt versuchen wollten, das Haus zu betreten, sagte er, würde er uns erschießen. Plötzlich hatte er eine Pistole in der Hand. »Erschieß sie einfach alle«, krächzte die Alte hinter ihm.
Vater sprach wieder auf sie ein, sagte, niemand könnte sich über das Gesetz stellen und ihm einfach sein Haus wegnehmen. Und wenn sie es bis jetzt hatten besetzt halten können, so nur deshalb, weil er nicht anwesend gewesen sei. »Das Haus ist mein Besitz und wird noch immer unter meinem Namen geführt«, sagte er.
»Es gibt nichts Leichteres, als es unter einem anderen Namen zu führen«, brüllte der Mann ihm entgegen. »Du hast zwei Häuser, ich hingegen keines! Du hast niemanden verloren, meine drei Brüder sind aber als Partisanen gefallen. Mein Haus ist niedergebrannt worden, es war zweimal größer als dieses hier. Ich nehme niemandem etwas weg, ich bin hier, weil ich es mir verdient habe, hier zu sein. Man hat mir gesagt, dass ich dieses Haus nehmen darf, weil es aus türkischen Turmresten besteht, und wir haben dafür gekämpft, dass es in dieser Welt keine Türme mehr gibt. Wenn du noch einmal kommst, wirst du dich umschauen, und wenn du nicht aufpasst, werden die Vögel dein schönes Gehirn von der Wiese picken«, sagte er und verschwand im Haus. Die Tür knallte er wütend hinter sich zu.
Wir standen vor dem Haus und sahen uns die Wände an, der Putz bröckelte an mehreren Stellen, das ganze Haus wirkte vernachlässigt und heruntergekommen. An der Vorderseite sah man die Spuren eines Hakenkreuzes und vom
Weitere Kostenlose Bücher