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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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großen hellen Kugel über uns; es war der Mond, der geradezu hastig unseren Familienspiegel eroberte, seine Klarheit machte aus dem Tod und der Seele ein unvergessliches Ereignis. Als ich zwölf wurde, schrieb ich eine Erzählung darüber. Sie begann mit folgendem Satz: »Er ist schön gestorben, er ist mit der Zeit verschmolzen.« So etwas würde ich heute nicht mehr schreiben, mein Stil scheint sich geändert zu haben, und doch musste ich mir diesen Satz für das Ende dieses Kapitels ausborgen.

24
     
    Für einen Laib Käse und eine kleine Kelle Schmant kauften wir einem dunkelhäutigen englischen Soldaten seine khakifarbene Uniform ab. Meine Mutter nähte mir eine Hose aus dieser Uniform, eine Pumphose und ein Hemd mit vier Taschen. Jeder, der mir über den Weg lief, musste sich anhören, wie viel in diese Taschen hineinpasste. Aus den Stoffresten nähte sie mir eine kurze Hose. Der Sommer stand vor der Tür, die Freiheit war zum Greifen nahe und wir waren glücklich. Meine Mutter nähte jeden Tag etwas Neues oder änderte alte Kleider, und wenn sie den Faden in die Nadel eingeführt hatte, das Handrad sich zu drehen begann und sie mit ihrem Fuß auftrat, fing sie an, etwas vor sich hinzusingen. Wenn sie etwas stopfte, kam ihr immer eine Redensart über die Lippen, wie jene, nach der es bei uns heißt, dass die Menschen von Flicken zusammengehalten werden, was eine optimistischere Variante der Überzeugung war, dass das Leben Leiden sei, beides sagte sie gerne und machte dabei immer einen tiefen Atemzug.
    Sie liebte ihre Singer-Nähmaschine über alles, behandelte sie wie ein Lebewesen, sprach mit ihr, lobte sie und streichelte sie, hatte aber immer Angst, dass mein Vater sie im betrunkenen Zustand einmal verkaufen oder jemandem als Zahlungsmittel in Aussicht stellen könnte. Die Singer-Nähmaschine hatte eine große Bedeutung im Leben meiner Mutter, sie war das Hochzeitsgeschenk ihres Vaters und wichtiger Teil ihrer Mitgift.
    An den Füßen trug ich handgemachte Sandalen, die der Dorfschuster, ein Autodidakt, fabriziert hatte. Sie waren aus Gummi, von übrig gebliebenen Autoreifen. Ein paar Lederriemchen hatte er am Gummi mit kleinen gelben Nägeln befestigt. Dieser Schuster hatte die Angewohnheit, jeden Kunden zu küssen, bei dem er Maß nahm, oder er strich ihm freundlich über die Fußballen, aber bei mir lutschte er an meinem großen Zeh, was mich so sehr kitzelte, dass ich lauthals in Lachen ausbrach. Niemand nahm ihm dieses kleine Ritual übel, das machte er immer, bevor er an die Arbeit ging. Wenn er die Leute küsste und streichelte, zumal, wenn es sich dabei um Kinderfüße handelte, sagte er: »Ach, diese Füßchen ernähren mich.« Aber wenn es sich um die Füße eines Mädchens handelte, bedankte er sich nur höflich für das Vertrauen, das man ihm entgegenbrachte. Er hielt es für ein großes Geschenk, einen barfüßigen Menschen beschuhen zu dürfen. Und wenn es sich um männliche Füße handelte, beugte er sich wie ein gläubiger Mensch nach vorne und sagte leise und dankbar, dass er ohne Menschenfüße kein Brot hätte, dass er ihnen alles Brot der Erde verdanke, genauso wie jeden anderen Bissen, den er in seinem Leben genossen hätte. Aber nicht nur das, sagte er, ohne Füße wäre er längst vor Hunger gestorben.
    Ich erinnere mich, dass ich wütend auf meine Mutter war, weil sie mir damals, als ein großer Wagen vom Roten Kreuz mit Kleidern und Schuhen nach L. gekommen war, nichts gekauft hatte. Aber sie tröstete mich mit der Geschichte von Jesus Christus, der genau mit solchen Sandalen, wie ich sie jetzt hatte, Predigten hielt und über die Heilige Erde lief. Das faszinierte mich aber überhaupt nicht, denn Jesus hatte in meinem Leben und in meiner Vorstellungskraft überhaupt keinen Platz, ich glaubte nicht, dass es ihn je gegeben hatte.
    Meine Mutter badete mich, massierte mir Walnussöl ins Haar, kämmte es zur Seite – meine erste Stadtfrisur. Ich war sauber und schön angezogen, weil ich mit meinem Vater im Lokalzug nach Trebinje fahren wollte. Die Stadt war jetzt befreit und wir hatten alle Hausschlüssel dabei, aber wussten nicht einmal, ob noch die Wände dastanden, in welchem Zustand unser Haus nach dem Abzug der Italiener überhaupt war. Es hieß, man hätte es unter dem Namen einer Sanitätsfirma als Bordell benutzt. Mit Mutter geriet ich in einen kleinen Streit, weil ich unbedingt meine Barett-Mütze tragen wollte, aber das erlaubte sie mir nicht, sie zerrte mich jedes Mal vor

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