Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Intellektuelle, ich bekam es oft mit, wenn sie über das Gute und das Böse sprachen. Wie es mein Vater zustande gebracht hat, sich mit diesen Leute auf Augenhöhe auszutauschen, werde ich nie begreifen, aber schon damals kam es mir so vor, als sei er der versierteste Erzähler unter ihnen, denn er kannte sich mit dem Thema am besten aus und seine Beispiele von Menschen, die vom Bösen verführt worden waren, gingen ins Unendliche. Nicht ein einziges Mal hörte ich, dass er etwas Lobendes über das Menschengeschlecht sagte. Es wunderte mich, dass ihm alle so aufmerksam zuhörten, vor allem, wenn er Geschichten aus seiner Jugend in Skadar erzählte. Und ich selbst erinnere mich noch heute an diese Geschichten meines Vaters. Eine davon möchte ich hier erzählen, wenn ich auch nicht weiß, warum ausgerechnet in diesem Kapitel, in dem ich eigentlich davon berichten will, dass mein Vater ungewöhnlich mild und zärtlich während Mutters gesamter Schwangerschaft war.
Seine besagte lehrreiche Erfahrung hat er in der hinteren Altstadt von Skadar gemacht, direkt am Mausoleum des Mehmet Efendija. »Wer diesen Ort mit einer bösen Absicht betritt, wird mit einem schwarzen Gesicht zurückkehren«, stand auf seinem Grabstein. Und was konnte elender sein als das, was die Menschen taten, die hier vorübergingen? Sie verrichteten an seinem Grab ihre Notdurft, bewarfen es mit Mist und toten Ratten, brachten verwesende Katzen, und statt der sonst üblichen leuchtenden Münzen war neben dem mit Absicht gesäten Dornengestrüpp nur noch Erbrochenes an diesem Mausoleum zu sehen. Warum machten sie das, gegen wen richtete sich ihre Wut? War ihr Gegenspieler das Gute, widersetzten sie sich dem Schicksal oder stellten sie sich über die Strafe, über Gott oder nur über diesen einen Menschen, der sie lediglich darum gebeten hatte, sein Grab ohne schlechte Absichten zu besuchen?
Allen seinen Erkenntnissen zum Trotz wurde mein Vater aber selbst immer wieder Opfer seiner eigenen schlechten Leidenschaften und Gewohnheiten. Deswegen will ich hier noch eine Geschichte einfügen. Als wir in unserem Ladengeschäft gar keine Waren mehr hatten, es leer war wie die Wüste, eröffneten genau zu diesem Zeitpunkt die Brüder Paranos einen Gemischt- und Kolonialwarenladen. Man konnte dort sogar Vogelmilch und also alles kaufen. Die Leute kauften in diesem neuen Laden ein, der sich in der gleichen Straße wie unser Geschäft befand. Mein Vater hatte sich etwas in den Kopf gesetzt: Er wollte mich dazu überreden, an die Hauswand des Paranos-Geschäftes den Satz Haut ab nach Griechenland zu schreiben. Aber das wollte ich auf gar keinen Fall, denn ich wusste, dass diese Leute Alteingesessene waren. Ihre Vorfahren hatten schon 1476 hier gelebt, zu einer Zeit also, als der Bezirk Trebinje vom neuen Bey Pašait einem einheimischen Mann namens Herak Vraneš überantwortet wurde, der darauf bestand, dass die griechischen Textilhändler bei uns blieben. Er verkaufte ihnen in ihrem Viertel eine ganze Straße und ihre Nachfahren handelten später mit italienischem Wein, so lange, bis das Osmanische Reich zusammenbrach. Niemand aus der Paranos-Familie konnte mehr die griechische Sprache sprechen, das Einzige, was sie von uns unterschied, war ihr Nachname. Außerdem war ich in das Töchterchen des jüngeren Paranos verliebt, sie war schwarzäugig, in meinem Alter und hieß Jelena. Ich träumte davon, dass wir eines Tages, wenn wir volljährig wären, heiraten würden. Schon allein deshalb wollte ich auf keinen Fall auf meinen Vater hören und diesen Unsinn auf ihre Hauswand schmieren. Ich entschied mich sogar dafür, dort einkaufen zu gehen und zu den ersten Kunden der Paranos-Brüder zu gehören. Ich ging also in den Laden und wollte Fenchel und Lebkuchen kaufen.
»Und was hat das gekostet?«, fragte Vater.
»Gar nichts«, sagte ich. »Der Besitzer hat mir das Geld zurückgegeben und gesagt, dass ich eingeladen bin.«
»Das ist redlich«, sagte Vater.
Ich habe meinen Vater belogen. Der Grieche hat mir nichts spendiert, ich habe bezahlt, wie alle anderen auch bezahlt haben. Ein bisschen Zeit war nach dieser genüsslichen Lüge vergangen, da rief mich mein Vater eines Tages in sein Zimmer und bat mich, auf dem kleinen Hocker Platz zu nehmen, den er vor seinen Fauteuil gestellt hatte. Aus dem Kleiderschrank holte er eine im englischen Schnitt gefertigte Uniformjacke namens Dolman heraus. Die Jacke war olivenfarben, der Stoff fein und weich. Das war sein liebstes
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