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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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einem Mädchen zu verdrängen, denn ein Mädchen wurde damals schon vor der Geburt gehänselt, Namen wie Brandstifterin oder Kühehüterin warteten schon auf das Kind, während ein Junge immer als Erbe oder Stammhalter ersehnt wurde. Sooft mein Vater sich von der Tradition losreißen wollte, so oft blieb er auch ihr Sklave.
    Sie erlaubten mir damals, Mutters Bauch zu streicheln, ich durfte mein Ohr darauf legen und hören, ob das neue Wesen in den Tiefen des Mutterbauches schon atmete. Ich übertrieb es hin und wieder mit meinen Fragen nach dem Schicksal des neuen Kindes, alles in allem konnte ich mich aber auf die Geburt dieses neuen Menschen freuen, es würde ihm so ergehen, wie es uns erging, und Gott würde uns helfen, wir würden bald die Armut abstreifen, vielleicht würden wir aus dieser Gegend fortziehen; so fruchtbar und so schön sie auch war, war sie doch genauso fluchbeladen.

32
     
    Nachdem die Schulglocke die letzte Stunde eingeläutet hatte, flüsterte meine Lehrerin mir zu, dass wir den Sonntag gemeinsam auf den Feldern beim Fluss verbringen würden. Wir wollten uns mit dem Fahrrad auf den Weg machen und einen Picknickkorb mitnehmen. Als ich das hörte, rannte ich übermütig nach Hause, ich hüpfte fröhlich vor mich hin, im Glauben, meiner Mutter als Erster davon zu erzählen. Aber sie wusste es schon, sie hatte sogar mit der Lehrerin verabredet, für unseren Ausflug Krapfen zu machen. Sofort inspizierte ich mein altes Fahrrad, ölte die Kette und die Zahnräder und flickte die Reifen. Wer auch immer an diesem Tag mit mir sprach, konnte sehen, dass ich glücklich war. Und das Glück konnte ich auf unterschiedliche Arten zum Ausdruck bringen, unbändig und wild, schreiend und mit den Händen gestikulierend. Auf diese Weise konnte ich an die hundert Meter Weg hinter mich bringen. Wie lang mir dieser Tag vorgekommen war! Die Zeit war nie langsamer vergangen. Auch die Nacht war lang, ich schlief spät ein und wachte früh auf. Mutter war vor mir wach, die Krapfen hatte sie schon gebacken, in ein Tuch gewickelt und in eine Netztasche gelegt. Sie goss uns eine Flasche Honigwasser ab, mein Lieblingsgetränk; schon im Alter von zehn Jahren betrank ich mich zum ersten Mal und es gelang mir problemlos, eine riesige Menschengruppe zu unterhalten. Ein Herr, er war ein berühmter Schauspieler und Regisseur, der gerade mit einem Gastspiel im »Haus der Kultur« in unserer Stadt war, streichelte mir über das Haar und sagte, dass in mir ein Komiker auf seine Stunde warte. Seitdem trank ich das Honigwasser nur noch in Maßen, ein oder nur ein halbes Glas, nie wieder verlangte ich Nachschub.
    Die Netztragetasche befestigte ich links am Lenkrad, denn rechts befand sich die Klingel, nach der ich, ob es nötig war oder nicht, oft griff. Breitbeinig stieg ich aufs Fahrrad, ein Fuß war auf einem Pedal, den anderen hatte ich auf dem Boden abgestellt. Mutter begleitete mich, stand neben mir, kämmte mich und richtete mich immer noch her. Ich sträubte mich dagegen und schob ihre Hand weg. War ich aber auf irgendeine Weise etwas grob mit ihr umgesprungen, plagte mich danach immer das schlechte Gewissen. Mehrmals klingelte ich, um meinen Aufbruch anzukündigen, und kerzengerade sitzend fuhr ich die ersten fünfzig Meter freihändig. Erst als ich das Lenkrad wieder anfasste, sah ich meine Mutter vor dem Haus stehen; sie strahlte etwas Unwilliges aus, wirkte traurig und zerknirscht, sie winkte mir, wie man sich zum Abschied vor einer langen Reise zuwinkt. Vor der Schulwohnung wartete die Lehrerin auf mich, sie stand schon neben ihrem neuen Fahrrad. Sie trug leichte Kleidung, ein Kleid mit Blumenmuster, flache Stoffschuhe und kurze weiße Söckchen. Sie hatte sich ein sehr schönes Tuch um den Kopf gebunden, es hatte auch ein Blumenmuster. Sie trug eine Sonnenbrille, kaum jemand hatte eine derart teure und elegante wie sie. Als sie auf ihr Damenrad stieg, hob sie das Kleid hoch und zeigte mir ihre Knie. Sie war nicht so besonnen wie unsere Mädchen, zog nicht ständig an ihrem Kleid herum, um die nackten Stellen ihres Körpers zu bedecken. Sie tat sogar genau das Gegenteil und zog das Kleid nur noch höher herauf, manchmal bis zur Hälfte der Oberschenkel. Bevor sie sich setzte, sah sie sich noch einmal um, wollte überprüfen, ob der Picknickkorb gut am Gepäckträger befestigt war.
    Wir fuhren in Richtung des Dubrovniker Stadttors, unterwegs begegnete uns das städtische Blasorchester, begleitet von einer Schar Kinder

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