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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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Jozipa hatte diese Geschichte in ihrer Kindheit von ihrer Mutter gehört. »Einem Menschen, mit dem der Wind dich vermählt, darfst du niemals untreu werden«, hatte sie gesagt.
    Über die prachtvollsten bestickten Kleider gab es viele verschiedene Geschichten, jeder erzählte sie, wie es ihm gerade passte, aber niemand wagte es, den Sinn der Geschichte zu entstellen, und auch die Hauptfigur blieb immer erhalten: Es ging um eine junge Frau von betörender Schönheit, die im südlichen Neretva-Tal das Licht der Welt erblickt hatte. Ich kannte diese Geschichte nur von Jozipa, erzählte sie aber meiner dankbar zuhörenden Großmutter Jelica und anderer Verwandtschaft, die sich am liebsten etwas von mir erzählen ließen, wenn etwas Übernatürliches darin vorkam.
    Manchmal träume ich noch von diesen Momenten, jedes Mal kommt ein anderer geliebter Mensch in meinen Träumen vor, in den prachtvollen Kleidern, wie sie jene sagenumwobene Schönheit getragen haben musste, die 1786 im Alter von zwanzig Jahren an Cholera starb. Niemand hatte damals Angst, sich bei der Erkrankten anzustecken. Die Menschen küssten sie sogar auf den Mund, und mit ihrem Tod nahm die Epidemie ein Ende. Die Priester waren sich darin sicher, dass Gott in dieser Sache seine Finger im Spiel und die Frau gerade wegen ihrer Schönheit ausgesucht hatte, um sie für alle anderen zu opfern. Da die Cholera besiegt war, entschieden sich die Leute dafür, der Toten die schönsten Kleider anzuziehen, die es in dieser Gegend gab. Nachdem man sie angezogen und ihren Leichnam in der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit aufgebahrt hatte, wollte sie jeder noch einmal sehen und ihre Schönheit bewundern, der man eine göttliche Strahlkraft nachsagte. Als die Leute aus dem ganzen Umland feierlich am Leichnam der Schönen vorbeizogen, hörte man Ausrufe der Begeisterung und es flossen Freudentränen. Dann geschah etwas, das zur unmittelbaren Entstehung der Legende führte, die später im kulturellen Gedächtnis dieser Gegend Eingang finden sollte.
    Die bewundernden Ausrufe über ihre Schönheit nahmen immer ekstatischere Züge an. Es hieß, ihr Körper sei plötzlich von einer höheren Macht bewegt worden und eine Art poetische Levitation habe die Tote schweben lassen. Zuerst liegend, dann sei die junge Frau jedoch im Stand über den Boden geglitten, sodass sie mit den Zehenspitzen den Boden berühren und sich wie eine Tänzerin drehen konnte. Ihr Kleid habe Geräusche im Wind gemacht. Es habe sich angehört wie das Rauschen der Blätter in Baumkronen. Tausende kleiner Waldbeeren, feuerrot leuchtend, fielen daraufhin aus ihrem Totenkleid auf den Boden. Das aufprallende Geräusch war unüberhörbar. Es machte den Eindruck, als hätte die Jungfrau Maria, die hinter der Aufgebahrten auf dem Altar zu sehen war, einen Seufzer nach dem anderen getan. Nur kurze Zeit später setzte die in goldenes Licht gehüllte Erscheinung ihre beiden Füße ganz auf dem Boden ab und legte sich danach gleich wieder auf die Bahre. Das Licht stumpfte langsam ab, die Legende war im gleichen Augenblick geboren. Man erzählte sich, es hätte sich um eine Auferstehung für Sekunden gehandelt, um etwas, das so nie wieder vorkommen würde. Forscher, Reisende und Ethnologen schrieben später darüber, nannten es einen Mythos, etwas, aus dem sich unzählige andere Geschichten herausschälten. Ein italienischer Schriftsteller hat in seinen Reisetagebüchern diesen Vorfall als seelische Illumination beschrieben. Und Ludwig Salvator hat sich der Begebenheit in seinem 1905 in Leipzig erschienenen Buch »Das, was verschwindet« im Zusammenhang mit der levantinisch-orientalischen Kleidung der Neretva-Gegend angenommen, er beschreibt in seinem Text das prächtige Kleid, aus Gold und Silber soll es gewesen sein. Die nahezu heilige und übernatürliche Schönheit der jungen Frau fand auf diese Weise Eingang in die Schrift, immer im Zusammenhang mit dem Wunder ihrer kurzen Auferstehung.

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    Mein Vater war davon überzeugt, dass es schwerer ist, etwas Gutes laut auszusprechen als etwas Schlechtes. Das Gute ist anstrengend. Das Böse geht einem leicht über die Lippen, an ihm findet man Genuss, jeder von uns wird hin und wieder gezwungen, mit dieser Verlockung umzugehen, vor allem jene Menschen, die in einer kleinen begrenzten Welt leben. Man kann sich nicht vorstellen, dass es ein großes Vergnügen ist, aus der inneren Dunkelheit in die Helligkeit des Tages hinauszutreten. Vaters Gesprächspartner waren

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