Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
mir schwer, wieder von ihr fortzugehen, ich konnte sie stundenlang ansehen und es machte Freude ihr zuzuhören, ich mochte die Art, wie sie sprach, mochte ihren Akzent, sie wusste beneidenswert viel über ihre Geburtsgegend und ihren Fluss, die Neretva, wusste alles über die Menschen, ihre Traditionen, ihre Trachten, über die Schönheit der Natur – es gab kein größeres Vergnügen für mich als ihr zuzuhören und sie anzuschauen, wenn sie auf dem kleinen Dreihocker in ihrem Lehrerhäuschen saß, immer mit angewinkelten Knien. Sie stickte bis in die späten Abendstunden. Sie brachte sogar mir bei, wie man stickt, ich half ihr einmal beim Nähen eines Kleides, für das sie einen Unterrock aus Spitze brauchte, diesen versah sie mit den kleinen Initialen ihres Namens, JB , mit goldenem Garn. Wenn ich an unsere Treffen zurückdenke, dann kommt es mir vor, als seien dies die glücklichsten Momente meines Lebens gewesen. Es war ein Glück, das die anderen nicht hatten, ich empfand es als ein Privileg, sie anschauen zu dürfen, während sie mit ihren flinken Fingern nähte. Meine erste Stickerei waren also ihre Initialen, groß und breit waren sie fortan auf Handtüchern, Kopfkissen, Decken und Jacken zu sehen.
Jozipa nähte und schneiderte wie alle fleißigen Frauen aus unserer Gegend; sie hatte eine Begabung und die Finger für Stickereien, sie stickte zum Beispiel auf Spitze, aber eigentlich auch auf alles andere, was die Kleidung ein bisschen verschönerte. Mit Wehmut erzählte sie, dass der Großteil der Volkstrachten aus der Gegend um die Neretva bereits der Vergessenheit anheimgefallen war, dass die Meisterwerke der Stickerei zusammen mit den Toten, die man darin bestattete, längst unter der Erde lagen. Es war gleichgültig, wie viel Gold allein schon auf die Herstellung der Trachtenkleidung von Frauen und die Folklorekleidung von Männern verwendet worden war und dass sie manchmal über ein ganzes Leben in Kisten aufbewahrt wurde, irgendwann später aber landete alles in einem Grab, sogar dann, wenn die Kleidung festlich gewesen und auf Hochzeiten und anderen Feierlichkeiten getragen worden war. Meine Lehrerin tröstete mich, sagte, solche Begräbnisse gebe es aber schon längst nicht mehr, die Menschen ließen sich heute in gekauften Kleidern bestatten oder nur in Tücher wickeln. Der Tod sei nicht mehr so ein großes Mysterium wie früher. Und dass man einst alles auf die Toten verschwendet hätte, die Verschwendungssucht also selbst vor dem Tod nicht Halt gemacht hatte, sei durchaus nützlich gewesen und hätte dazu beigetragen, dass viele Legenden entstanden sind, die man sich bis heute erzählt.
Ganz besonders waren unter diesen Handarbeiten die faculeti bekannt, das waren bestickte Kopftücher, märchenhafte Beispiele einer detailreichen Handarbeit. Noch heute kann man sie in Ethnologischen Museen betrachten, aber auch manche Familien haben sie aufbewahrt. Und nahezu jeder hat zum faculeti eine Legende zu erzählen. Eine davon handelt von sechs schönen Mädchen, die die jungen Männer ihres Ortes am Hafen verabschiedeten, als diese gerade ihren Matrosendienst auf fremden Schiffen und auf weit entfernten Ozeanen antraten. Die schönen Frauen standen am Hafen und die jungen Männer auf dem Schiff. In dem Moment, in dem es aus dem Hafen lief, kam ein starker Wind auf, die Kopftücher der Mädchen flogen davon und man sah ihr wildes Haar im Wind wehen. Auf diesen Kopftüchern waren Liebesbotschaften eingenäht, der Wind trug sie direkt in die Hände der werdenden Matrosen, die nun für lange Zeit die Neretva-Gegend verließen. Wenn ein junger Mann ein Kopftuch gefangen hatte, bewahrte er es wie ein Zeichen Gottes auf, ein Wink des Schicksals oder wie ein Surenbüchlein. Nur eines dieser sechs jungen Mädchen heiratete den nächstbesten, der ihr über den Weg lief, während die anderen fünf auf jenen Mann warteten, dem der Wind das Tuch zugespielt hatte. Und wenn die Matrosen irgendwann aus der Ferne zurückkamen und ihren Dienst absolviert hatten, heirateten sie die ihnen vom Wind Versprochene. Nur einer unter ihnen blieb nach der Rückreise unverheiratet. Es hieß aber, dass die Treulose keine Kinder bekommen könne. Diese Begebenheit wurde von Generation zu Generation weitergegeben. Die Geschichte wurde nicht ausgeschmückt und man erzählte sie wie einen wahren Vorfall. Am Schluss der Erzählung entfuhr jedem ein tiefer Seufzer wegen der jungen Frau, die sich nicht an die Abmachung gehalten hatte.
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