Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Kleidungsstück. Kurz vor Kriegsende war er eines Tages damit nach Hause gekommen, just an jenem Tag, an dem ich für eine Packung Eier eine Pilotenkappe aus echtem Leder bekommen hatte. Damals kauften wir auch eine Soldatenuniform, die Vater zu klein und mir zu groß war.
Ich erinnere mich nicht mehr an das genaue Datum, auch die Historiker streiten sich darüber, ob es der Januar oder der Februar 1945 war, als in den Bahnhof von L. ein Zug mit einer ganzen Kompanie englischer Soldaten einfuhr. Gut erinnere ich mich hingegen daran, dass es Schneeverwehungen gab, dass die Schneeflocken wuchtig fielen, Tag und Nacht schneite es, sodass der Zug auf dem Gleis mehr als sechs Stunden liegen blieb, so lange, bis die Schienen bis Uskoplje frei geworden waren. In dieser Zeit strömte alles zu den Gleisen, weil es sich herumgesprochen hatte, dass die Engländer ihre Uniformen gegen Essen und Getränke tauschten. Viele Bewohner wollten eigentlich gar nicht mit ihnen handeln, sie wollten nur die Soldaten und ihre Bekleidung sehen. Vaters Onkel Limun, der siebzig Jahre in Amerika verbracht hatte, stand im Alter von zweiundneunzig Jahren aus seinem Krankenbett auf, weil er die Gelegenheit wahrnehmen wollte, mit den Soldaten wieder Englisch zu reden. Später erzählte er, dass dies seit seiner Rückkehr der glücklichste Tag gewesen sei, dass er beim Sprechen seiner geliebten englischen Sprache die ganze Zeit über habe weinen müssen. Mein Vater nutzte die Situation aus und ließ ihn mit den Engländern um den Preis des Dolmans feilschen, den er für drei Flaschen Schnaps und eine Korbflasche Wein bekam. Für ein Huhn, ein Stück Speck und einen Käselaib konnte man eine Pistole bekommen. Ein paar junge Engländer, Soldaten und Offiziere, verliehen dem alten Limun einen Orden, weil er der Einzige weit und breit war, der sich auf Englisch verständigen konnte. Das machte große Freude, zugegeben, der Spaß war ein bisschen unangemessen, aber so etwas passiert oft, wenn maßlos getrunken wird. Und der Orden war nicht etwa ein belangloser Knopf, eine Klammer oder ein Sternchen von den Epauletten, es war ein echtes Stück, ein britisch-irischer Orden des Heiligen Patrick, auf dem Quis separabit stand. Aber dabei blieb es nicht, die vollkommen betrunkenen Offiziere ernannten Limun zum Admiral der königlichen Marine, was er in aller Ernsthaftigkeit als Ehre betrachtete. Später nannten ihn dann alle Admiral, und in seinem Testament verlangte er, dass man diesen Titel auf seinem Grabstein einmeißelte.
Als Vaters Onkel Limun im Alter von fünfundneunzig Jahren starb, trug ich, gleich hinter dem Kreuzträger und dem Priester gehend, diesen St. Patrick-Orden vor seinem Sarg auf einem kleinen Kissen. Und noch heute kann man auf dem Friedhof von L. die merkwürdige Inschrift auf seinem Grabstein lesen, nach der hier ein Admiral der britischen königlichen Kriegsmarine in Frieden ruht, der sich die Auszeichnung des Heiligen Patrick verdient habe. Das warf später Fragen auf. Welche Stürme und Ozeane musste dieser Mann erlebt und was musste er alles auf der Welt gesehen haben, wenn er ausgerechnet hier, hinter Gottes Rücken, seine ewige Ruhestätte gefunden hatte? Wie groß musste jene Welle gewesen sein, die ihn ausgerechnet an diesen Ort geworfen hatte! So etwas müsste sich fortan jeder Durchreisende gefragt haben! Nur wir wussten die ganze Wahrheit, aber wer waren wir schon, vorläufige Zeugen, vor deren Augen aus einem Spaß historischer Ernst werden kann; nicht nur wir verändern uns, sondern auch das, was wir Wahrheit nennen.
Vater passte gut auf seinen Mantel auf und bürstete ihn häufig; lange Zeit tat er ihm gute Dienste und hatte für ihn einen festen Platz in seinem Kleiderschrank. Wenn er in seinem Dolman-Mantel Verwandte oder Freunde besuchte, erlaubte er nicht, dass man ihn einfach auf ein Bett oder einen Stuhl legte, sondern bestand darauf, dass man ihn an die Türklinke hängte, und er behielt das gute Stück während der ganzen Unterhaltung im Auge. Manchmal stand er auf und zupfte am Kragen herum. Manche seiner Freunde machten sich schon einen Spaß aus seiner Mantel-Narretei, deshalb versteckten sie hin und wieder den Dolman oder schmückten ihn mit Gräsern und Ästen. Das verärgerte Vater viele Male, und wenn sie ihm den Mantel wieder gesäubert zurückgaben, konnte er es nicht lassen, den Werdegang des guten Stücks mit dem menschlichen Schicksal zu vergleichen, das ja auch alles andere als absehbar ist. Wie
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