Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
Jozipa war. Sie umarmte sie immerzu und versuchte, ihr immer etwas Nettes zu sagen. Wir waren froh und die Freude teilten wir mit der Lehrerin, liebten ihre Schönheit und bewunderten sie für ihren Geist und ihre Weisheit. Aber die Leute um uns herum, von den Mächtigen angestachelt, schienen sich völlig darauf geeinigt zu haben, dass man sie eliminieren musste. Im lokalen Wochenblatt wurden häufig Leserbriefe abgedruckt, in denen Sätze wie »Ich bin nur ein Vater« oder »Ich bin nur eine Mutter« usw. standen; man beschimpfte sie als untragbare Person und beschwerte sich über ihre kurzen Röcke. Sie sitze absichtlich halbnackt vor den Kindern, die sich ihren Schenkeln und Knien gar nicht entziehen könnten. Es wurden auch andere zornige Briefe abgedruckt, man sprach über Jozipa wie über einen Staatsfeind. Die Schreiberlinge beeilten sich, sie als eine Verrückte darzustellen, man bezeichnete sie sogar als Spionin, die sich auf Staatsgrundstücken und Genossenschaftswiesen herumgetrieben habe, mit einem Netz in der Hand, das sie angeblich für den Fang von »Schmetterlingen« dabeigehabt haben soll. Sogar aus ihrem Geburtsort traf ein Brief ein, der nur mit Namensinitialen unterzeichnet war, darin war die Rede vom Vater der Jozipa B. Der ungebildete Dörfler habe sich gegenüber dem Verbund der Genossenschaft und der Volksbefreiungsbewegung verdächtig gemacht. Die selbsternannten Aufklärer, die dem Regime treu ergeben waren, beschafften sich aus der Stadtbücherei das Verzeichnis aller Bücher, die Jozipa ausgeliehen hatte, es handelte sich ihrer Meinung nach ausschließlich um Titel von »westlicher Dekadenz«. Für sozialistischen Stoff interessiere sie sich nicht und habe einfach nichts für Arbeiterthemen übrig. Jetzt fragten sich natürlich alle, ob eine solche Person gut für die Erziehung unserer Kinder sein konnte.
Jozipa brachte uns das Schreiben bei. Meine Mutter war überzeugt davon, dass wir ohne sie gleichsam Blinde geblieben wären. Häufig beschäftigten wir uns in unseren Hausaufgaben mit Legenden, die wir von den Älteren gehört hatten, und wer die meisten Geschichten sammeln konnte, der wurde gelobt und bekam gute Noten. Darin war ich am besten. Ich war tüchtig im Sammeln der Volkserzählungen, und das machte mich irgendwann zu Jozipas Lieblingsschüler. Außerdem war ich der Einzige, der Wörter benutzte, die auch sie im Unterricht gebrauchte, und nicht nur die, die man in meiner Region schrieb oder sprach. Es kümmerte mich überhaupt nicht, dass ihr die Bildungsinspektoren ihre Sprache verübelt und ihr sogar verboten hatten, einige Wörter zu benutzen. Ich wollte ihr treu bleiben, liebte alle Wörter, die auch sie sagte, die verbotenen sprach ich so laut ich nur konnte aus. Manchmal zwinkerte sie mir zum Zeichen des gegenseitigen Verständnisses zu. Und wir hielten zueinander, lehnten uns auf diese Weise gemeinsam gegen die politischen Kleinkrämer auf, gegen viele Dogmen, die ich erst später als solche erkannt habe und richtig einordnen konnte. Jozipa ist es zu verdanken, dass ich in meinem Leben gelernt habe, für meine Gefühle einzustehen. Intuitiv erfasste ich, dass ich im Zustand des inneren Widerstands lebte. Ich lernte, mich auf meine Weise zu widersetzen, das tat ich aber nie laut, spürte jedoch deutlich, dass meine Stellung deutlich abseits gesellschaftlicher Normen war.
Wenn ich in der Kindheit je auf den Geschmack des Glücks gekommen bin, so war das vor allem in der Zeit, in der ich mit Jozipa zusammen war oder wenn ich mich nur in ihrer Nähe befand, das galt sogar für jene Fälle, in denen sie sich von mir abwandte und mich bestrafte. Für meine schelmischen Streiche musste ich mich oft in die Ecke knien. Sie züchtigte mich auch mit der Rute, und einmal verbrachte ich achtundvierzig Stunden in der Schule. Es gab dort eine richtige Zelle, so etwas wie Einzelhaft, doch davon später mehr. Meine glücklichsten Augenblicke, die ich mit ihr teilte, waren jene in der Lehrerwohnung, wenn wir nähten und strickten. Ich lernte beides sehr gut, der Grund dafür war, ich wollte schlicht und ergreifend bei ihr sein. Meine Klassenkameraden hänselten mich wegen der Handarbeiten, aber das war mir egal. Auch meine Mutter warf es mir vor, sie sagte, dass das nur etwas für Frauen sei und man mich auslachen würde. Und tatsächlich drückten mich einmal zwei Jungen an die Wand, pressten ihre Körper und Knie gegen mich, und einer von ihnen, der ein rundes unreines Gesicht hatte,
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