Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
richtigen Grund gab es eigentlich nicht, es war doch das Natürlichste auf der Welt, wenn sich Menschen ins Gras legen und dann auch kurz einschlafen, vor allem, wenn es so jemand wie Jozipa war, die regelrecht hungrig war nach der Natur. Aus heutiger Sicht betrachtet, ist es klar, dass ich Angst um Jozipa hatte und befürchtete, sie könnte dort auf dem Feld gestorben sein, einfach tot sein, tot, zwischen den Blumen. Vielleicht habe ich geglaubt, dass eine so große Freude wie jene, die ich während unseres Ausflugs empfunden habe, gar nicht anders als im Tod enden konnte. Die Leute hatten außerdem immerzu von ihrem Tod und ihrer Krankheit gesprochen, jeder wusste irgendetwas darüber zu erzählen, es gab auch viele krude Geschichten, die verbreitet wurden. Und all das hatte sich unheilvoll auf mich ausgewirkt, ich war bestimmt überzeugt davon, sie in jenem Augenblick tot aufzufinden, weil es einfach mein Schicksal so eingerichtet hatte, dass ich in diesem Augenblick bei ihr war.
Als ich mich gesammelt hatte und zu jener Stelle gehen konnte, an der sie verschwunden war, bot sich mir ein Anblick, den ich trotz der vielen Jahre, die diese Begebenheit inzwischen zurückliegt, immer noch genau vor mir sehe, so als sei mir das alles erst gestern geschehen.
Jozipa lag auf dem Rücken, mit entblößten Schenkeln, und auf ihrer Brust bewegte sich mit einem langsamen Flügelschlag ein bunter Schmetterling hin und her. Er unternahm nicht einmal den Versuch fortzufliegen. Es sah so aus, als hätte er sich an ihrem Kleid festgehakt. Jozipa hatte das Kopftuch abgenommen, und als ich ganz nah an sie herantrat, mich neben sie kniete, konnte ich ihren Atem hören. Ich betrachtete ihren Busen, der sich langsam, fast unmerklich, hob und wieder senkte. Erst jetzt sah ich, dass der Schmetterling auf ihrer Brust mit einer Stecknadel durchstochen und auf diese Weise an ihrem Kleid befestigt war. Er schlug hin und wieder mit den Flügeln, war aber offenbar bereits sehr geschwächt. Was mich an diesem schönen Tag aufgeheitert hat, war die Erkenntnis, dass Jozipas Kopf gar nicht so spiegelglatt war, wie ich es gedacht hatte, er war übersät von kleinen dichten Haaren, die sich voll und weich anfühlten. Zärtlich strich ich ihr mit der Hand über den Kopf, vor Glück verschluckte ich mich fast dabei. Ich konnte meinen Blick nicht von ihren nackten Schenkeln und den sehr schönen Knien lösen. Ich sah mir auch ihre Fußzehen ganz genau an, sie war jetzt barfuß und hatte ihre Stoffschuhe nur eine Armeslänge von ihr entfernt zur Seite gelegt. Es war einer der schönsten Tage meines Lebens. Nie wieder habe ich später annähernd etwas damit Vergleichbares erlebt, und es ergab sich auch nie wieder eine solche Gelegenheit, auf einem Feld, mitten in den Blumen, eine Frau mit jenem verschmelzenden, tief gefühlten Blick anzusehen.
Jozipa hatte ihre Knie angewinkelt, sie machte die Augen auf und sah mich fröhlich an; noch immer von ihr bezaubert, lag meine Hand auf ihrem Kopf und ich streichelte ihren weichen Haarflaum. Als sie meine Hand in die ihre nahm, war ihr mein schneller Puls sicherlich nicht entgangen.
»Du bist aufgeregt und glücklich, weil mein Haar wächst? Ist es so?«, fragte sie.
Ich hatte Angst vor meiner eigenen Stimme, sie hatte mich schon einmal im Stich gelassen, ein paar Worte konnte ich aber hinauspressen, konnte ihr sagen, dass ich mich freute, und in meinem Bauch machte sich in diesem Augenblick ein Zittern breit. Ich hatte geglaubt, dass das Glück einen leiser und schmerzloser umfängt, jetzt aber, da ich eines Besseren belehrt worden war, wusste ich, dass es kein größeres Erlebnis als so eines geben konnte – der Tod hatte in mir keinen Platz mehr, obwohl es nicht leicht gewesen war, das Bild von ihm aus meinem Inneren zu vertreiben, weil ihr Gesicht für mich dieses Bild war. Und um ganz offen zu sein, ihr hübsches Kleid hatte ich für ihre Begräbnisausstattung gehalten. Ein Stein fiel mir vom Herzen. Von da an hatte mein Leben sich verändert, es war mir kostbar geworden.
Jozipa nahm den mit der Stecknadel durchstochenen Schmetterling von ihrem Kleid ab. Jetzt zeugte schon gar nichts mehr von seiner einstigen Lebendigkeit. Es war ein betörend schöner Schmetterling; selten habe ich solche durchdringenden Farben gesehen, so plastisch erschien mir sein Wesen, nicht einmal unter der gekonnten Pinselführung eines Malers hätte er auf diese Weise entstehen können. Viele Jahre später, als ich einiges
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