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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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schmückten sich nun auch jene, die nur kurze Zeit zuvor meine Lehrerin beschimpft und die behauptet hatten, sie habe das Wort »Betreuer« als gezielte Beleidigung verwendet. Das war für mich eine gute Gelegenheit, ihr gegenüber Solidarität zu bekunden. Als Einzige begriff sie meinen geschickten Schachzug und wunderte sich, dass ich kein Wort über mein Vorhaben verloren hatte. Zugleich war sie die Einzige, die das eine oder andere an meinem Text auszusetzen hatte. Er sei ganz schön geschrieben, sagte sie, aber viel zu schmeichlerisch. Später habe ich in meinen Texten das gleiche Verfahren angewandt, um mich an meinen Zensoren vorbeizuschmuggeln.
    Ich erinnere mich noch genau daran, dass mich das Urteil meiner Lehrerin Jozipa sehr aufgewühlt hat, aber in helle Aufregung versetzte mich ihre Einladung, einmal bei ihr in der Lehrerwohnung zu übernachten, damit wir in der Frühe einem Vogel zuhören konnten, der immer zu einer bestimmten Stunde auf dem Wipfel ihres Bergahorns auftauchte. Die Äste des Baumes reichten bis zu ihrem Fenster, an dem der Vogel wie ein menschliches Wesen fröhlich vor sich hinzwitscherte. Das Vögelchen war ihr ganz persönlicher Weckdienst. Sie hatte es schon unzählige Male von Ast zu Ast hüpfen sehen, manchmal versteckte es sich hinter einem großen Blatt, weshalb sie es regelrecht suchen musste. Dieser kleine bunte Sänger bedeutete ihr viel. Wir halten uns alle an etwas fest, brauchen ein Wesen, das uns hilft, der Einsamkeit standzuhalten. Eine Stimme war dabei immer eine gute Hilfe. Irgendwann habe ich verstanden, dass meine Lehrerin Jozipa eine Melancholikerin war und völlig unvorbereitet von Stimmungen überrascht wurde. Sie vertraute mir an, dass der Vogel ihr fehlen werde, wenn sie hier wegzöge. Schwermütig war ihre Stimme dabei, und sie sah mich auf eine Art an, als sei ich jener Vogel. Jozipa hatte auch einmal einen Text über Vögel geschrieben, er wurde im Neretva-Kalender veröffentlicht und trug den Titel »Die Überwinterung der Vögel im Tal der Neretva«. Es las sich wie Literatur, ihre Beschreibungen waren durch und durch poetisch, vor allem wenn es um die Schwärme der Regenpfeifer ging und sie ihre akrobatischen Flüge beschrieb, sich über Waldschnepfen ausließ, die pfeilschnell und in Sekundenschnelle ins Moor fliegen. Allen Erniedrigungen zum Trotz, die sie in dieser Region erlebte, schien ihr der Abschied von uns doch schwerzufallen. Sie war schon an der Zagreber Universität bei der Naturwissenschaftlichen Fakultät angenommen worden, Abteilung Biologie, das verdankte sich ihren zahlreichen Artikeln, die sie in den unterschiedlichsten Zeitungen und Zeitschriften veröffentlicht hatte.
    Sie erzählte mir auch von ihrem Kristallspiegel, der an der Wand neben der Tür in ihrem Schlafzimmer hing. Niemand hatte diesen Raum je zuvor betreten. Sie überdeckte den Spiegel häufig mit einem Tuch, das sie dann behutsam und mit langsamen Bewegungen zur Seite schob, um sich so, Stück für Stück, ihrem Gesicht anzunähern. Wenn sie das Tuch ganz zur Seite gezogen hatte, überkam sie ein leichtes Zittern, sie spürte jedes Mal die Angst vor der Begegnung mit der eigenen Gestalt, es war das Unwägbare, das sie in Aufregung versetzte. Mehrmals hatte sie diese Erfahrung gemacht, wenn der Spiegel ihren Kopf in einer unendlichen Reihung gezeigt hatte. Sie sprach dann von einer »Seelenkomposition im Plural« – in einem fernöstlichen Buch hatte sie etwas in der Art gelesen. Der Spiegel ist im Grunde ein idealer Ort für das Zusammentreffen mit einem anderen Menschen. Sie erwartete diese besondere Zusammenkunft, legte das Tuch über den Spiegel, horchte ihn nach seinen Geheimnissen ab, und noch während sie ihn bedeckte, tröstete sie sich selbst, beschwichtigte dabei ihre Ängste. »Wart’s ab«, sagte sie einmal im Spaß, »eines Tages wird die Muttergottes unsere Verlobung in einem Spiegel kundtun.« Ein heftiges Lachen überfiel sie daraufhin. Und ich fühlte mich allen Ernstes zu ihrem Verlobten auserkoren.

34
     
    In der Zeit, als unserer Familie endlich so etwas wie Frieden zuteil geworden war, saßen wir häufig zusammen und träumten ernsthaft davon, an einem anderen Ort unser Glück zu versuchen. Vater und ich spielten mit der Idee eines Umzugs und unsere Devise war, so weit wie nur möglich fortzugehen. Aber Mutter entzog sich allen diesen Gesprächen und sagte, sie habe bereits mit dem Umzug nach Trebinje alle ihre Träume verwirklicht. Wir aber ließen

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