Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)
uns die Namen aller Meeresstädte auf der Zunge zergehen, sprachen von Dubrovnik und Kotor, dort, betonten wir, könnte man schöner leben, aber wovon, das wussten wir selbst nicht so genau, denn in diesen Tagen sprachen alle Händler und Handwerker mit Angst in der Stimme vom neuen Staat, der die Abschaffung des Privateigentums plante. Vater war überzeugt davon, dass es sich bei den bevorstehenden Enteignungen nur um Fabriken handeln konnte. Diese und die Ländereien, Palazzi und große Firmen seien für den Staat interessant, alles andere nicht, kleine Lädchen, Gaststuben und Wirtshäuser, Kioske, kleinere Verkaufsstellen wie jene, an denen Maronen geröstet wurden, würde letztlich sicher kein Mensch anrühren wollen. Wir besaßen nur eine Erlaubnis für den Einzelhandel, Vater verfügte über einen Nachweis, dass er die Forstwirtschaftsschule besucht hatte, aber in jener Zeit war etwas ganz anderes kostbar. Es war Vaters schöne Schrift, die einen Schatz wert war. Meine Mutter konnte auch ganz gut schreiben, vor Hunger sterben würden wir also alle nicht. Außerdem hatte Mutter immer wieder davon gesprochen, dass sie lernen wollte, wie man mit einer Schreibmaschine schreibt.
Wir gaben uns unseren Träumen hin und waren überzeugt davon, dass sich bald alles für uns verwirklichen ließe. Wir beschlossen, unseren Geburtsort L. aufzusuchen, aber niemandem vom Anlass unserer Reise zu erzählen. Wir wollten uns von allen Menschen verabschieden, die uns nahe waren, aber genauso planten wir, uns alles anzusehen, was uns einst etwas bedeutet hatte, die Orte, die Ländereien. In L. lebten meine beiden Großmütter und meine unglückliche Tante Vesela, aber es gab auch andere nahe und ferne Verwandte. Es war ein Sonntag, wir hatten genug Zeit zwischen dem Morgen- und dem Abendzug. In L. kamen wir gegen neun Uhr an, es war ein schöner Tag, eigentlich sonnig, aber mit einem wolkendurchsetzten Himmel, Schatten fielen auf die Erde, dann wieder brach die Sonne voll durch und wir sahen immer wieder zum blauen Himmel hinauf. All das erinnerte uns unmittelbar an die hier verlebte Zeit, an alles, was die Natur in unsere Erinnerung eingeschrieben hatte, mitunter auch Beunruhigendes, doch auch solches, das sich als Glück in uns ablegte.
Es war eine Seltenheit, hier eine dreiköpfige Familie zusammen zu sehen; Mutter nahm mich an die Hand, Vater ging uns ein paar Schritte voraus. Vielleicht war an unseren Gesichtern gerade an diesem Tag das Glück ablesbar; wir waren auch stolz, dieser Gemeinschaft anzugehören, und gingen gleich zu unseren nächsten Verwandten. Wir besuchten Großmutter Vukava, blieben aber nur kurz. Jeder wusste, dass sie meine Mutter alles andere als lieb hatte, erzählte sie ja überall, dass ihnen mit ihr eine »böse Saat« zuteilgeworden sei. Mutter und ich standen an der Tür und Vater übergab Großmutter ein Viertelpfund Kaffee, eine Wäscheseife und eine Seife fürs Gesicht; Geld gab er ihr auch. Meine Tante Vesela bekamen wir nicht zu Gesicht, denn immer wenn sie Stimmen von Besuchern hörte, versteckte sie sich in ihrem Zimmer und sperrte die Tür ab. Wir wussten, warum sie das tat, ihre Hässlichkeit war nicht der einzige Grund. Die Scham setzte ihr zu. Doch darüber zur gegebenen Zeit mehr.
Dann machten wir uns von dort auf den Weg zum Haus meiner anderen lieben Oma Jelica. Das war ein gutes Stück zu Fuß, in besseren Zeiten wäre ein Fiaker vorbeigekommen, aber davon konnte jetzt nicht mehr die Rede sein. Kurz bevor wir das Haus erreichten, riss ich mich los und rannte voraus, um Großmutter als Erster umarmen zu können, denn niemand hatte jemals so viele zärtliche und liebkosende Wörter für mich aufgebracht wie sie. Sobald wir uns geküsst hatten, machte ich mich eiligst auf den Weg in den Stall, um meine Lieblingskuh Zlatka zu begrüßen, sie beugte sich gerade über den Futtertrog, ich rief ihren Namen und sie drehte sich gleich zu mir um, betrachtete mich, denn sie war traurig, dass ich sie so lange nicht besucht hatte. Ich streichelte sie und sprach mit ihr, und sie schien mir, das kann ich bezeugen, auch wirklich zu antworten, sie muhte kurz zur Begrüßung, beugte dann den Kopf und schnappte mit ihrem Maul genüsslich nach Stroh und Spreu. Großmutter stand in der Tür zum Stall und betrachtete mich voller Rührung und Güte, ihre Augen leuchteten genauso hell wie die meiner Mutter. Von ihnen habe ich die Augenfarbe vererbt bekommen. Und während Großmutter mich betrachtete,
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