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Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition)

Titel: Die Stadt im Spiegel: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mirko Kovac
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streichelte ich den Rücken der Kuh, ihren dicken Bauch und fuhr mit der Hand in Richtung Euter. Großmutter sprudelte vor Fröhlichkeit und war immerfort in Bewegung; sie sagte, die Kuh sei trächtig und würde in zwei Monaten ein Kalb werfen. Ich versprach ihr vorbeizukommen und das Kalb zu umarmen.
    »Ich nehme dich beim Wort«, sagte Großmutter. »Du musst dir das Kalb ansehen, bevor sie es schlachten.«
    Wir saßen vor dem Haus und blieben bei Käse und Schinken lange beieinander. Großmutter packte für uns einen Geschenkkorb, legte achtsam Eier rein und bettete sie in Heu, steckte uns dies und das noch zu, Trockenobst, Kräutertees, Brombeerkonfitüre, Honigwaben. Das machte sie immer so – als würden wir in der Stadt hungern oder Gelüste auf Dinge haben, die es dort einfach nicht gab. Oma Jelica klagte über Schwindelgefühle, sie waren selten und hielten nicht lange an, eine Viertelstunde, nicht mehr, aber das war lang genug für sie, um die Orientierung zu verlieren. Dann erschien ihr alles unbekannt und sie hatte das Gefühl, in einem fremden Haus zu leben. Einmal hat sie sogar ihr Haus auf der Suche nach ihrem Haus verlassen. Verwandte fanden sie und berichteten, sie habe immerzu vor sich hingebrummelt: »Warum bringt ihr mich zurück, ich bin doch schon tot.« Mutter konnte solche Geschichten nur schwer ertragen und sagte nur: »Haben wir uns nicht etwas Fröhlicheres zu erzählen?«
    Nach dem Besuch bei Großmutter Jelica machten wir uns auf den Weg zu unserem Haus, blieben ein paar Meter vor ihm dicht beieinander stehen und betrachteten es durch die Bäume und Fliederbüsche hindurch, die es verdeckten. Wir liebten dieses schöne Haus noch immer, hatten es aber verkaufen müssen, die Schulden belasteten und erdrückten uns und es gab in jenen Tagen auch keinen anderen Weg, das Geschäft zu eröffnen. Den Käufer haben wir nie zu Gesicht bekommen, Viktor Bloudek war der Makler. Es lief alles über ihn. Das Haus wurde ordentlich im Grundbuch unter einem uns unbekannten Namen eingetragen; seit damals hat es niemand von uns mehr betreten, aber es war auch nie mehr geöffnet vorzufinden. Jetzt sahen wir es aus sicherer Entfernung an und wagten nicht, noch näher heranzutreten, wir wussten, es würde uns allen wehtun; es gab viele Erinnerungen in diesem Haus, in jeder Ecke, ein Reich war dort gewachsen, und jetzt war es feucht und voller Spinnweben, die Feuchtigkeit war förmlich zu riechen, es war gut, dass wir es nicht betreten konnten. Einer von uns wäre bestimmt in Tränen ausgebrochen. Wir sahen auf die verschlossene Tür, die zugezogenen Fensterläden, alles war von einer Verlassenheit gezeichnet, die etwas Totes ausstrahlte. Die vom Holz abbröselnde Farbe setzte Vater zu. Er rief aus, alles sei heruntergekommen – »das Haus, die Menschen und die Zeit, in der wir leben«. Die Weinlaube war nicht mehr zu erkennen, der Wein vertrocknet, das einzig Lebendige an diesem verlassenen Haus war der bleierne Wetterhahn auf der Schornsteinspitze, und in diesem Moment bewegte er sich, das kauzige Geräusch sorgte einen Augenblick lang für Ausgelassenheit bei uns. Der mit Steinen ausgelegte Weg führte bis zur Tür und war mit Laub überdeckt. Lange hatte hier niemand mehr sauber gemacht, nicht einmal der Wind schien durchgepfiffen zu haben, und obwohl dieser Teil des Grundstücks immer dem Wind ausgesetzt war, konnte sich keiner von uns daran erinnern, dass es unter der Tür je gezogen hätte, die Fenster auf der Südseite hingegen waren undicht und man musste sie immer mit Tüchern auslegen. Wir brachten es also nicht übers Herz, uns dem Haus weiter zu nähern, wir waren nicht kaltblütig genug, das war einmal unser Zuhause gewesen, und wir erwiesen ihm durch unser Schweigen unsere Ehre.
    Von dort aus machten wir uns auf den Weg zum Friedhof. »Das ist doch auch eine Art Heimat«, sagte Vater, eine Heimat, die wir aber lieber nicht die unsere nennen wollten. Aber Fakt ist, dass man sich auf Friedhöfen gut ausruhen kann. Das Gras scheint von der Kraft der Friedhöfe zu profitieren, es wächst wuchtig zwischen den Gräbern in die Höhe, manchmal ist es sogar so hoch wie die Kreuze. Es mutet geheimnisvoll an, dass es so in die Höhe schießen kann. Mit einer Sense kommt man schlecht an dieses Gas heran, man muss es am Ende immer mit den eigenen Händen beseitigen. Das Tor am Eingang des Friedhofs stießen wir zur Seite, es stammte noch aus der Zeit von Österreich-Ungarn, als die Kirchen noch Geld für

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