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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Ballonhülle riss auf einer Länge von mehreren Metern auf. Heiße Luft entwich, der Auftrieb verringerte sich schnell, und der Ballon sank. Die Ereignisse
entsprachen exakt dem visionären Bild, das Benjamin gesehen hatte.
    Kowalski legte rasch sein Messinstrument in den offenen Koffer und zog dann die Schnur des Brenners. Eine Flamme fauchte, und ihr wechselhafter Schein fiel auf die erschrockenen Gesichter der Passagiere.
    »Bewahrt die Ruhe«, sagte Kowalski, obwohl sich niemand regte. »Wir haben die Situation unter Kontrolle.«
    »Was passiert?«, fragte jemand.
    »Ich fürchte, wir stürzen ab«, sagte Agostino, was ihm einen finsteren Blick von Kowalski einbrachte.
    Plötzlich sprachen alle durcheinander, und jemand schrie. Agostino trat zu Kowalski, der versuchte, mit dem Fuß den Koffer zu schließen, ohne die Schnur des Brenners loszulassen. Der Mann im blauen Overall ergriff die Seile und wollte nach oben klettern, aber Kowalski hielt ihn zurück. »Bist du übergeschnappt?«
    »Ich habe es gesehen«, sagte Benjamin zu Louise, die sich mit einer Hand an ihm und mit der anderen am Rand des Korbs festklammerte. »Vorhin, als die Streuner auf uns schossen. Ich hab gesehen, was passieren würde, in einer Art Vision.«
    »Und jetzt? Was passiert jetzt ?«
    »Wir fallen!«
    Wolken umhüllten Korb und Ballon, aber schon nach wenigen Sekunden blieben sie über ihnen zurück. Sie fielen schneller – die Flamme des Brenners konnte nicht so viel warme Luft in den Ballon schicken, wie er durch den Riss verlor.
    Benjamin sah nach unten. Das Licht des falschen Mondes
drang durch eine breite Lücke zwischen den Wolken, und in seinem Schein zeigte sich die Stadt – ihre Stadt – als dunkle Masse, umgeben von einem Meer aus Nebel. Aber der Nebel war erneut zurückgewichen, und Benjamin bemerkte das Glitzern eines Sees und in seiner Nähe ein fast schnurgerades Band, vielleicht eine Straße. Er erinnerte sich daran, beides von der Penthouse-Wohnung des Hochhauses gesehen zu haben.
    »Ich bin gerade tot gewesen, Ben, und ein Sturz aus so großer Höhe ist eine verdammt unangenehme Art zu sterben.«
    Der Brenner feuerte und feuerte, aber der Ballon über ihnen schrumpfte, und sie fielen immer schneller. Benjamin beobachtete, wie der Riss noch länger wurde, als Nähte nachgaben. Ein langer Stofffetzen flatterte im Wind, geriet in die Flamme und fing sofort Feuer. Funken flogen, kleinere Flammenzungen leckten nach Seilen und anderen Teilen der Hülle, und auf einmal brannte der Ballon lichterloh.
    Louise klammerte sich mit beiden Händen an Benjamin, aber er merkte kaum etwas davon, denn zwei der Seile, die den Korb mit dem Ballon verbanden, gaben plötzlich nach, und der Korb kippte. Es gelang ihm gerade noch, sich am Rand festzuhalten, und im gespenstischen Schein der über ihnen lodernden Flammen sah er, wie mehrere Personen, unter ihnen der hagere Pascal, aus dem Korb fielen.
    Dann rissen auch die anderen Seile, und sie alle stürzten in die Tiefe.
    Tief unter der Stadt drehten sich Ritzel, die lange Zeit geruht hatten. Sie setzten große Zahnräder in Bewegung, und dadurch erwachte ein bestimmter Teil der Maschine zu neuer Aktivität. Kein Licht erreichte diesen Ort, an dem ewige Finsternis herrschte. Doch das Summen und
Surren, das hier in der Dunkelheit erklang, entschied weiter oben über die Länge von Tag und Nacht, über die Schwärze des Himmels und die Helligkeit der Sonne, über das Alter der Häuser und ihre Beschaffenheit. Es ließ das Wasser des Flusses strömen und in den Kanälen gelegentlich Luftblasen vom Boden aufsteigen. Manchmal fügte es Gebäuden Stockwerke hinzu und ersetzte zerbrochene Fensterscheiben.
    Die Pendel der Kohärenz schwangen langsam und maßen die Grade der Wahrscheinlichkeit.
    Die Geschehnisse in der Stadt – in den Städten – bildeten Muster innerhalb von Mustern, wie die Bilder von Mandelbrot-Mengen, in denen feine Verästelungen wuchsen und neue Muster bildeten. Alles hing zusammen; alles war miteinander verbunden. Das eine beeinf lusste das andere.
    Ein besonders großes Rad drehte sich nur einen Zahn weiter, und sein Klacken hallte wie das Pochen eines Taktgebers durch die Dunkelheit in diesem Teil der Maschine.
    Weiter oben veränderten sich die Beziehungen zwischen Ursache und Wirkung. Menschen fielen, und einige von ihnen fielen anders als die anderen.
    Gleichzeitig sorgten kausale Verknüpfungen dafür, dass sich die Lücken in den Regalen des Supermarkts langsamer

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