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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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ihn nicht mehr als lebendes Inventar einer begrenzten, überschaubaren Welt, die ihm bald nichts Neues mehr zu bieten hatte. Mit einer Ausnahme. Ihm fiel eine junge Frau auf, in eine Aura der Tristesse gehüllt, und etwas an dem Anblick berührte ihn. Einmal setzte er sich neben sie, mit der Absicht, ein Gespräch zu beginnen oder sie wenigstens nach ihrem
Namen zu fragen, aber als er die tiefe Trauer in ihren Augen sah, schnürte es ihm den Hals zu. Eine Zeit lang saßen sie stumm nebeneinander und blickten hinaus auf den Parkplatz, der zu einer unerreichbaren Welt gehörte.
    Am nächsten Tag fand Benjamin heraus, in welchem Zimmer die Traurige wohnte. Er spielte gerade mit dem Gedanken, die Tür zu öffnen, als Townsend erschien, den betreffenden Raum betrat und die Tür hinter sich abschloss. Eine halbe Stunde später trat er wieder in den Flur, sein weißer Kittel noch immer glatt, ohne eine einzige Falte. Aber der Beobachter in Benjamin bemerkte die Veränderungen in seinem Gesicht: die Wangen leicht gerötet, links neben dem Mund ein kleiner Fleck, die Pupillen geweitet.
    Als Townsend fort war, ging Benjamin durch den Flur und wartete, bis ihn der Blick des Pflegers, der ihn ständig im Auge behielt, für eine Sekunde verließ. Rasch öffnete er die Tür und trat ein.
    Die junge Frau lag in einem zerwühlten Bett, zur Wand gedreht. Ihre nackten Schultern bebten, und Benjamin wusste, dass sie lautlos weinte.
    Er näherte sich, nahm vorsichtig auf der Bettkante Platz und streckte die Hand aus. Als er die Traurige, die noch viel trauriger war als sonst, an der Schulter berührte, zuckte sie zusammen, drehte den Kopf und sah erschrocken zu ihm hoch.
    »Ich bin es nur«, sagte Benjamin. »Ich tue dir nichts.«
    Tränen rollten ihr über die Wangen, aber es waren lautlose Tränen, nicht von einem Schluchzen begleitet. »Er hat es wieder getan«, sagte sie leise.
    »Was hat er getan?«
    »Ich habe dich gesehen«, sagte die Traurige. »Du bist ein
guter Mensch. Du tust mir nichts. Aber er ist böse. Nimm dich vor ihm in Acht. Er ist ein böser Mensch.«
    Die Tür ging auf, und der Pfleger sah herein. »Lass Françoise in Ruhe«, knurrte er.
    »Er hat mir nichts getan«, sagte die Traurige.
    »Ich habe ihr nichts getan, und ich will ihr auch nichts tun«, sagte Benjamin. Aber er stand auf, ging zur Tür und verließ das Zimmer.
    Im Flur dachte er daran, dass er von der Traurigen sowohl etwas Wahres als auch etwas Unwahres gehört hatte. Es stimmte, er hatte der jungen Frau nichts tun wollen. Aber es stimmte nicht, dass er ein guter Mensch war. Da irrte sie sich. Denn das, was tief in ihm auf der Lauer lag, war ein Ungeheuer.

    Ihm war heiß und kalt zugleich, als er erneut die Augen öffnete und eine blasse Sonne an einem grauen Himmel sah. Neben ihm ragte eine aus Ästen und Zweigen bestehende Wand der Baumhütte auf, und als er sich zu bewegen versuchte, merkte er, dass er noch immer gefesselt war.
    »Wir müssen in die Stadt zurück«, sagte Louise. Sie beugte sich über ihn, das Gesicht voller Sorge.
    »Nein«, krächzte Benjamin. »Nicht … in die Stadt.«
    »Ich muss dich zum Hospital bringen, Ben. Wenn es mit dir so weitergeht, stirbst du erneut.« Hilflos fügte Louise hinzu : »Ich weiß nicht, was mit dir los ist. Wenn du weggetreten bist … Du trittst und schlägst um dich, redest mit anderen Stimmen. Manchmal starrst du mich an, als befände sich jemand anders hinter deinen Augen.«
    Nicht zurück in die Stadt, dachte er. Dort geht es bald drunter und drüber.

    Etwas kratzte und knackte, und Louise wandte sich zur Seite. »Da kommt schon wieder so ein Biest.«
    Sie verschwand aus Benjamins Blickfeld, und er drehte mühsam den Kopf zur Seite. Louise hielt plötzlich eine Pistole in der Hand – die Waffe, die er in der Parkatasche gehabt hatte – und zielte damit nach unten. Dichte Nebelschwaden zogen langsam über die Sumpflandschaft. Etwas kam aus diesen grauen Wolken, eine schuppige Kreatur, wie eine Mischung aus Alligator und Waran, bohrte Krallen ins Holz des Baumstamms und kletterte langsam nach oben.
    Louise schoss, und ein Knall zerriss die Stille über dem Sumpf.
    Mit seltsamer Deutlichkeit sah Benjamin, wie grünes, phosphoreszierendes Blut dicht über den Augen aus dem Kopf des Wesens spritzte. Es knurrte wütend, und eine lange, schlangenartige Zunge tastete aus dem Maul. Die vorderen Tatzen bewegten sich, und es zog sich noch ein Stück am Baumstamm hoch.
    Louise drückte erneut ab; der

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