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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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schweißgebadet, obwohl es kalt war. Fieber brannte nicht nur in seinem Körper, sondern auch in der Seele; Gefühle und Gedanken standen in Flammen. Ein falscher Mond und falsche Sterne glühten matt an einem schwarzen Himmel, und der Wind bewegte Zweige, die aussahen wie lange, krumme Klauen. Benjamin lag halb in der Baumhütte, mit einem Strick an einen dicken Ast gefesselt. Instinktiv versuchte er sich zu befreien, aber dann erinnerte er sich an Louises Hinweis.
    »Louise?«
    Nur die leise Stimme des Winds antwortete ihm, wortlos und gleichgültig. Wo war Louise? Wo waren Kowalski und die anderen?
    Benjamin atmete schwer, in der Hitze des Fiebers gefangen. Er versuchte den Kopf zu heben, aber dazu fehlte ihm die Kraft. Die Augen fielen ihm zu, und aus dem inneren Brodeln stiegen weitere Erinnerungsbilder auf.

    Mehrmals fiel das Wort » Institut«, und schließlich begriff Benjamin, dass er sich in einer Spezialklinik befand. Welche Krankheiten hier behandelt wurden, blieb ihm zunächst ein Rätsel, und ein Teil von ihm staunte über die Gleichgültigkeit, mit der er dieser und anderen Fragen gegenüberstand. Er fühlte sich getrennt von dem, was um ihn herum und auch mit ihm selbst geschah, mehr Beobachter als Beteiligter. Was auch immer mit ihm passierte: Dieser Ort war besser als die kleine Zelle mit dem harten Stuhl, den uniformierten Wächtern und den anderen Leuten, die alle gleich gekleidet waren. Die Erinnerungen daran waren verschwommen, ohne Einzelheiten, bis auf diese: Er entsann
sich an Gesichter wie Masken, die aber ihren Abscheu nicht verbergen konnten.
    Die ersten Tage verbrachte er in dem Zimmer mit dem weichen Sessel. Dreimal täglich bekam er zwei von den blauen Tabletten, meistens von Townsend oder der Frau, die Vivian hieß und seine Partnerin und Assistentin zu sein schien. Er schaute oft aus dem Fenster, zur Wiese auf der anderen Seite des weißen Zauns. Zwei Pferde grasten dort, und manchmal ritt eine junge Frau eins von ihnen. Später erfuhr er, dass die junge Frau – Muriel – Townsends Tochter war und die beiden Pferde Dakota und Delight hießen.
    Er wusste nicht, was die blauen Tabletten mit ihm anstellten. Verletzungen irgendeiner Art hatte er nicht an sich entdeckt und vermutete deshalb, dass die »Krankheit«, an der er litt, psychischer Natur war. Auf einer rein intellektuellen Ebene wusste er, dass ihn diese Erkenntnis beunruhigen sollte, ebenso wie der Umstand, dass er sich kaum an sein früheres Leben erinnerte, aber eine solche emotionale Reaktion blieb aus. Vielleicht lag hier die Wirkung der Medizin; möglicherweise schützte sie ihn vor inneren Wirren. Was auch immer der Fall sein mochte – er empfand die Ruhe als sehr angenehm.
    Nach den ersten Tagen durfte er sein Zimmer verlassen und sich in einem bestimmten Teil des Instituts bewegen, zuerst immer von zwei kräftigen Pflegern begleitet, später dann nur noch von einem. Benjamin lernte, zwischen Personal und Patienten zu unterscheiden, und er merkte, dass es noch immer den beobachtenden Teil in ihm gab, ein lauerndes Selbst, das alles zur Kenntnis nahm, von der Helligkeit der Lampen bis zu den kleinsten Flecken auf dem Boden,
von den Türen und ihren Schlössern über Medikamentenschränke bis hin zu den Überwachungskameras und Alarmsensoren. Dieser Aspekt von ihm, der unermüdliche Beobachter, sammelte jede noch so unwichtig scheinende Information und fügte sie wie kleine Mosaiksteine einem viel größeren Gesamtbild hinzu. Schon bald gelangte er zu dem Schluss, dass das Institut nicht nur ein Ort war, an dem Patienten geheilt werden sollten. Es war auch, wie der andere Ort, ein Gefängnis. Zahlreiche Sicherheitssysteme überwachten die Patienten, um sie daran zu hindern, das Gebäude zu verlassen.
    Manchmal erschienen fremde Personen, Männer in Anzügen und Frauen in Kostümen. Sie sprachen mit Townsend und Vivian, richteten kritische Blicke auf ihn und nickten bedächtig. Einmal war ihnen Benjamin so nahe, dass er einige Gesprächsbrocken aufschnappte, Worte wie »Unzurechnungsfähigkeit«, »neue Behandlungsmethode« und »selektive Persönlichkeitsneutralisierung«.
    Er lernte die übrigen Patienten kennen, die sich in dem für ihn zugänglichen Bereich des Instituts befanden, Männer und Frauen, die andere Medizin bekamen als er und ihm seltsame Geschichten erzählten. Was auch immer sie erlebt hatten, warum auch immer sie sich an diesem Ort aufhielten – für Benjamin blieb es bedeutungslos. Sie waren für

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