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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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füllten. Die Maschine dachte und fühlte nicht, aber ihre Wahrnehmungskomponenten und Erkenntnisstrukturen stellten fest, dass gewisse Geschehnisse einem wichtigen Höhepunkt entgegenstrebten, und daraufhin ordneten sie Bereitschaft an.
    Die Bewegungen im tiefen, dunklen Innern der Maschine waren so langsam und träge wie Kontinentalverschiebungen. Aber wie bei Kontinenten, deren Kanten aufeinandertrafen, sammelte sich Kraft an, die sich früher oder später entladen musste.

Träume von Leben

40
    Als Benjamin die Augen öffnete, sah er das letzte Licht des Tages, ein fahles Grau, davor die Schatten von Zweigen und Blättern. Ein Baum, dachte er. Ich sehe einen Baum. Und in der Stadt gibt es keine Bäume.
    Dann schwebte Louises Gesicht über ihm, und als er sich zu bewegen versuchte, schien ihm jemand einen Dolch in den Rücken zu bohren.
    »Bleib ganz ruhig liegen«, sagte Louise. »Du bist tot gewesen, Ben. Fast eine ganze Woche lang.« Etwas leiser fügte sie hinzu: »Bald muss ich wieder los, um Proviant zu holen. Dann binde ich dich fest, damit du nicht herunterfällst.« Sie hob den Arm, und ein Strick erschien in Benjamins Blickfeld. »Hiermit. Hast du verstanden? Es sind keine Fesseln. Kämpf nicht dagegen an.«
    Tot. Zum zweiten, vielleicht sogar zum dritten Mal. Was hatte er vergessen? Benjamin horchte in sich hinein, als wäre es möglich, auf diese Weise leere Stellen in seinem Gedächtnis zu entdecken.
    Sein Kopf rollte zur Seite, und er sah eine von dicken Ästen umschlungene Hütte. Weiter unten erstreckte sich eine graubraune Morastfläche, aus der hier und dort mangrovenartige
Bäume ragten. Wo sind wir?, wollte Benjamin fragen, brachte aber nur ein Krächzen hervor.
    Müde schloss er die Augen und sah neue Bilder.

    Das Gitter am Fenster war anders, und das Zimmer hatte helle Wände. Es enthielt sogar einen bequemen, weichen Sessel.
    »Ich gebe Ihnen ein neues Leben«, sagte der Mann am Tisch. »Nehmen Sie Platz, Benjamin.«
    Zwei Männer standen an der Tür, groß, kräftig gebaut und nicht in Uniformen gekleidet. Sie beobachteten ihn wachsam.
    »Wo bin ich hier?«, fragte er.
    »Sie sind bei mir«, antwortete der Mann am Tisch. Er sah wie ein Professor aus: ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, die Augen grauschwarz und ernst. »In meiner Obhut. Setzen Sie sich, Benjamin.«
    Die letzten Worte klangen etwas schärfer, und Benjamin sank nicht in den Sessel, sondern auf den zweiten gepolsterten Stuhl am Tisch. Der Professor auf der anderen Seite … Er kannte ihn. Er hieß Townsend, José Maria Townsend, und er hatte ihn schon einmal gesehen, in dem anderen Gebäude, in einem Zimmer mit harten Stühlen und Wächtern in Uniform.
    Townsend sah ihm tief in die Augen. »Wer sitzt mir gegenüber?«
    Benjamin sah sich verwundert um. »Ich?«, erwiderte er. »Ja, ich.«
    »Und wer sind Sie?«
    »Ich bin Benjamin Harthman.«

    »Wissen Sie, was Sie getan haben, Benjamin?«
    Für einen Sekundenbruchteil sah Benjamin Dutzende von weit aufgerissenen Augen, voller Entsetzen. »Angst«, sagte er. »Ich sehe Angst.«
    Townsend schaute zur Seite, zu einer Frau, die in der Ecke stand, in unauffälliges Grau gekleidet. Sie war jünger als der Professor, aber in dem Blick, den sie und Townsend wechselten, spürte Benjamin eine besondere Vertrautheit. Dass er es bemerkte, erstaunte ihn. Etwas in ihm schien ein sehr aufmerksamer Beobachter zu sein, vielleicht noch wachsamer als die beiden Männer an der Tür, und auf alle Details zu achten. Es war ein lauerndes, wachsames Etwas, das nach Schwächen suchte, nach Gelegenheiten, die es nutzen konnte.
    Die Frau trat vor, und als sie näher kam, erschien sie Benjamin vage vertraut. Er glaubte, sie schon einmal gesehen zu haben, an einem anderen Ort. Sie hatte eine schmutzige Hose getragen, und eine fleckige, fransige Jacke.
    »Sie sind krank, Benjamin«, sagte die Frau. Ihre Stimme klang sanft. »Aber wir machen Sie wieder gesund.«
    In Townsends Hand erschien ein Glas Wasser, das er vor Benjamin auf den Tisch stellte. Die andere Hand legte zwei blaue Tabletten daneben.
    »Das ist Medizin«, sagte der Professor. »Sie wird Ihnen helfen.«
    »Aber es geht mir gut«, erwiderte Benjamin. »Ich fühle mich nicht krank.«
    »Nehmen Sie Ihre Medizin, Benjamin«, sagte Townsend, und wieder lag eine besondere Schärfe in diesen Worten. Benjamin konnte gar nicht anders, er musste gehorchen.
    Er nahm die Tabletten und trank das Glas Wasser halb aus.
Benjamin erwachte

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