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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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Dunkelheit konnte Benjamin die beiden Löcher nicht sehen, aber zweifellos strömte noch immer heiße Luft aus ihnen.
    »Wir haben es geschafft«, sagte Louise und schlang ihm den Arm um die Taille. »Wir sind unterwegs.«
    Benjamin überlegte, ob er ihr von den beiden Löchern und dem visionären Bild erzählen sollte, das er kurz gesehen hatte. Er entschied sich dagegen und spürte, wie das Gefühl des Arms an seiner Taille viel von seiner Aufmerksamkeit beanspruchte. Louise streckte die freie Hand aus.
    »Die Lichter dort drüben«, sagte sie. »Das Gloria, nehme ich an.«
    Dunstfetzen zogen vorbei, als der Ballon noch höher stieg. Kowalski ließ die Schnur des Brenners los, um Treibstoff zu sparen, und in der Stille war nur das Knarren der Seile zu hören. Und ein Zischen von entweichender Luft. Benjamin vernahm es ganz deutlich, aber die anderen schienen es nicht zu bemerken. Dann sah er, wie Kowalski einen besorgten Blick nach oben richtete.
    Der Wind wurde stärker und trieb ihnen weitere Dunstschwaden entgegen.
    »Kann es Nebel geben, hier oben?«, fragte jemand.
    »Das ist kein Nebel, es sind Wolken«, verkündete Agostino. Er war kaum mehr als eine Silhouette, als er neben Kowalski trat und kurz mit ihm flüsterte. Dann sahen sie beide nach oben.
    »Was pfeift da so?«, fragte jemand anders.
    »Der Wind«, sagte Kowalski. »Es ist nur der Wind.«
    »Wolken.« Louise sah sich staunend um, obwohl es kaum
etwas zu sehen gab. Der ferne Lampenschein beim Hotel Gloria und die anderen wenigen Lichter in der Stadt verschwanden, als der Ballon durch dichtere Wolken schwebte. »Wie nah sind wir dem Himmel?«
    Die Frage erschien Benjamin zunächst seltsam, doch dann verstand er. Wenn sie weiter aufstiegen … Bestand dann die Gefahr, dass sie gegen den Himmel stießen?
    Die Dunstschwaden blieben unter ihnen zurück, und über ihnen leuchteten die Flecken von Mond und Sternen. Benjamin sah zu ihnen hoch und fragte sich, wie nahe sie waren, und als er den Blick senkte, sah er Lichter in der Nacht: weit vor ihnen, und auch hinter ihnen und zu beiden Seiten. Sprachlos vor Verblüffung beobachtete er, wie einige dieser Lichter flackerten und verschwanden; an anderer Stelle entstanden dafür neue.
    »Siehst du?«, brachte er hervor und ergriff Louises Arm. »Ich habe mich nicht geirrt. Es gibt eine andere Stadt.«
    »Nicht nur eine«, sagte der neben ihm stehende Kowalski ergriffen. »Es sind … Dutzende, vielleicht sogar Hunderte.« Er ließ die Schnur des Brenners los, öffnete hastig einen seiner beiden Koffer und holte ein Messinstrument hervor, das gewisse Ähnlichkeit mit einem Sextanten hatte.
    Agostino stand am Rand des Korbs und sah durch seinen Feldstecher.
    Hier und dort fiel der Schein der Flecken am nahen Himmel auf Wolken unter ihnen, und manche von ihnen bildeten große, flauschig wirkende Massen. An anderen Stellen war die Sicht frei, und dort waren große Nebelzonen zu sehen, wie graue Watte auf weiten Teilen der Welt. Inmitten dieser grauen Teppiche gab es zahlreiche dunkle Zonen, viele
von ihnen rund, andere unregelmäßig geformt und wie zerfranst, und in einigen von ihnen strahlten Lichter.
    Städte. Nicht eine. Nicht zehn oder zwanzig, sondern Hunderte, große und kleine, mehr als man zählen konnte.
    »Die Welt ist nicht gekrümmt«, sagte Kowalski aufgeregt und spähte durch seinen speziellen Sextanten. »Es gibt keinen Krümmungshorizont wie bei der Erde. Hier reicht der Blick viel weiter.«
    Die Passagiere gafften und vergaßen die tote Miriam.
    Agostino streckte plötzlich den Arm aus. »Seht euch das an!«
    Aus einer großen Stadt vor ihnen stiegen mehrere Lichter wie Glühwürmchen auf, zerplatzten und versprühten Funken.
    Benjamin riss die Augen auf. »Ist das ein Feuerwerk ?«
    »Rechts davon!«, stieß Agostino hervor. »Die Lichtergruppe auf der rechten Seite.« Er wollte den Feldstecher Kowalski geben, aber Benjamin griff danach und sah hindurch. Das Fernglas war auf hohe Vergrößerung eingestellt, und das Bild tanzte. Benjamin versuchte den Feldstecher möglichst ruhig zu halten, drehte das Einstellrad und sah die dunklen Konturen eines Gebäudes. Auf dem Dach hatte jemand Scheinwerfer aufgestellt, und sie schienen zu einem Muster angeordnet zu sein. Sie formten Buchstaben, begriff Benjamin plötzlich, und die Buchstaben bildeten ein Wort.
    »Hilfe«, las er. »Dort ruft jemand um Hilfe, mit Licht!«
    In diesem Augenblick wurde das Pfeifen über ihnen zu einem lauten Zischen, und die

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