Die Stadt - Roman
ist.«
Es folgte eine Stille, in der nur das Kratzen des übers Papier eilenden Stifts zu hören war. Wie froh muss Jonas sein, dachte Benjamin. So viele Worte, die er aufschreiben kann.
»Wenn das alles stimmt …«, sagte er langsam. »Wenn ich wirklich in Dagos Auftrag hier bin, um ihm die Möglichkeit zu geben, euch den Supermarkt wegzuschnappen … Warum bin ich dann in dieser Nacht ins Labyrinth hinuntergegangen? Warum habe ich riskiert, alles zu ruinieren?«
»Aus Dummheit?«, entgegnete Hannibal. »Weil du zu neugierig bist?«
Benjamin musterte den Mann, der knapp siebzig zu sein schien, aber schon seit fast achtzig Jahren in der Stadt lebte. Dumm war er gewiss nicht. Zumindest ein Teil seiner Erregung – vielleicht sogar alles – war gespielt. Er hatte ihn aus der Reserve locken wollen.
Abigale beugte sich vor. »Ich glaube dir, Benjamin. Du bist bestimmt kein von Dago geschickter Spion. Ich kenne Louise und vertraue ihr.«
Sie war wieder ganz die mütterliche Frau, die es gut meinte, doch Benjamin glaubte, dass auch sie eine Rolle spielte. Beide ergänzten sich, wie der böse und der gute Polizist: Der eine erschreckte und schüchterte ein, der andere beruhigte und gab Hoffnung. Einmal mehr fragte sich Benjamin, in welcher Beziehung sie zueinander standen. Ein Paar in dem Sinne schienen sie nicht zu sein. Oder doch?
»Ich glaube außerdem, dass du es gut meinst, Benjamin«,
fuhr Abigale fort. »Aber dir sollte klar sein: Als Mitglied unserer Gemeinschaft musst du dich an die Regeln halten, die unser Zusammenleben bestimmen. Heute Nacht hast du gegen eine der wichtigsten verstoßen, und ich möchte, dass du uns versprichst, so etwas nie wieder zu tun. Haben wir dein Ehrenwort?«
Wir befinden uns auf der Bühne eines Theaters, dachte Benjamin. Ich weiß nicht, was hier gespielt wird. Keine Komödie, fürchte ich, eher ein Drama, vielleicht sogar eine Tragödie. Ich wollte eigentlich nur Zuschauer sein, aber etwas hat mich hierhergebracht, zu den Schauspielern, die ihren Text gut kennen, während ich improvisieren muss.
Er hatte Louises Rat missachtet und ahnte, dass ein Leben ohne Zugang zum Supermarkt mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden sein würde. Deshalb nickte er.
Abigale lächelte. »Ich bin sicher, dass du ein gutes Mitglied der Gemeinschaft wirst. Such dir bald einen neuen Namen für dein neues Leben aus, Benjamin. Er wird es dir erleichtern, einen Platz bei uns zu finden. Wenn ich dich zum Schluss noch etwas fragen darf …«
»Ja?«
»Die Schatten, die aus dem Brunnen auf dem Platz kamen … So etwas ist nie zuvor geschehen«, sagte Abigale nachdenklich und hielt dabei den Blick auf ihn gerichtet. »Drei von ihnen hatten es auf dich abgesehen. Wie die beiden Schatten, die Louise und dich verfolgten, als sie dich zu uns brachte. Hast du eine Erklärung dafür?«
Der Stift kratzte nicht mehr übers Papier und wartete, gespannt auf die nächsten Worte. Für einen Moment kroch die Stille der Nacht ins Zimmer.
»Nein«, sagte Benjamin. »Ich habe keine Ahnung, was sie von mir wollten.«
Jonas’ Stift setzte seine Reise übers Protokollpapier fort.
Hannibal räusperte sich, öffnete die vor ihm liegende Aktenmappe und sah auf eine Liste hinab. »Morgen früh bricht eine Gruppe zum Elektrizitätswerk auf, um dort nach dem Rechten zu sehen, weil die letzten beiden Elektrostunden ausgeblieben sind. Ich möchte, dass du sie begleitest. Es gibt dir Gelegenheit, mehr von der Stadt zu sehen und dich nützlich zu machen.«
Mein erster Arbeitseinsatz, dachte Benjamin. Ich weiß nicht mehr, was ich früher gewesen bin, aber hier soll ich Kontrolleur eines Elektrizitätswerks sein.
Und aus wem auch immer die Gruppe bestand: Bestimmt gehörte ihr ein Gemeinschaftsmitglied an, das ihn im Auge behalten sollte.
»Ist das alles?«
»Ja. Dir bleiben noch ein paar Stunden, um zu schlafen. Ruh dich aus. Morgen erwartet dich ein langer Tag.«
Benjamin stand auf, ging zur Tür und zögerte.
»Wer gehört zu der Gruppe?«
Hannibal sah erneut auf die Liste. »Katzmann, Velazquez und Kowalski.«
Kowalski, dachte Benjamin, als er den Raum verließ. Das könnte interessant werden.
Ausblicke
19
Der Patrouillenwagen rollte über die Brücke, die den Fluss ohne Namen überspannte, und Benjamin fragte: »Woher kommt dieser Fluss? Und wohin strömt er?«
»Er kommt aus dem Nebel und verschwindet wieder darin«, antwortete der am Steuer sitzende Katzmann. Fahrtwind wehte durchs offene Seitenfenster
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