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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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gilt das in einem besonderen Maße, denn wir alle balancieren auf der großen Waage, den Himmel auf der einen, die Hölle auf der anderen Seite.«
    »Neugier ist weder Vermessenheit noch Sünde«, sagte Benjamin und genoss das innere Polster der Ruhe. Er lag weich darauf; es gab ihm Sicherheit.
    Für ein oder zwei Sekunden verhärteten sich Hannibals Züge, und die Falten in seinem Gesicht schienen tiefer zu werden. »Du hast also gelauscht.«
    »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte Benjamin unschuldig.
    Jonas kritzelte glücklich in seiner Ecke.
    Die Tür öffnete sich, und Abigale kam herein. Diesmal waren es violette Schuhe, die über den Boden klackten, keine roten, und darüber trug sie einen wadenlangen giftgrünen Rock. Ihr feuerrotes Haar war zerzaust. Sie legte Benjamin kurz die Hand auf die Schulter und lächelte, ging dann zu Jonas.
    »Entschuldigt die Verspätung. Ich nehme an, ihr habt euer Gespräch schon begonnen?« Sie überflog, was der Sekretär geschrieben hatte. »Oh«, sagte sie, trat zum Schreibtisch in der Mitte des Raums und setzte sich neben Hannibal.
    »Sei nicht zu streng mit ihm«, fügte sie hinzu. »Er ist gerade erst zu uns gekommen.«
    »Hat Petrow die Stadt verlassen?«, fragte Benjamin. »Hat er die Route siebzehn genommen?«
    Hannibal und Abigale wechselten einen kurzen Blick.
»Man kann die Stadt nicht verlassen«, erwiderte Abigale. »Der Nebel und die Kreaturen verhindern es. Erst wenn wir uns als würdig erwiesen haben, wird sich der Nebel lichten, und dann können wir alle den Limbus verlassen und durch die Pforten des Paradieses schreiten.«
    Für Benjamin klang es hohl, nach Worten, die längst ihren Inhalt verloren hatten. Er fragte sich, ob Abigale wirklich glaubte, was sie da sagte. Aber vielleicht galten die Worte gar nicht ihm, sondern Hannibal. Vielleicht dienten sie vor allem dazu, Abigales Position im Mikrokosmos der Gemeinschaft zu sichern.
    »Trotz deiner Aufsässigkeit gebe ich dir eine letzte Chance bei uns«, sagte Hannibal langsam. »Wenn du uns sagst, wer du bist.«
    »Verzeihung?«
    »Hat Dago dich zu uns geschickt? Um Unruhe zu stiften?«
    »Wie bitte?«
    »Warum hast du im Supermarkt nicht auf Jasmin geschossen?«
    In der Ecke kratzte der Stift.
    Benjamin war in Gedanken noch immer so sehr mit dem Labyrinth und Hannibals Regentschaft beschäftigt, dass er nicht sofort verstand, worum es ging. Dann sah er noch einmal die Frau mit der Armbrust vor sich, spürte das Gewicht der Pistole in der Hand, die eben noch zwei Meter entfernt gelegen hatte. Jasmin, Dagos Partnerin. Sie hatte nicht auf ihn geschossen, und er nicht auf sie. Und dann die Begegnung mit Dago auf dem Konkordatsplatz: Benjamins Blickfeld war geschrumpft, und etwas hatte seine Aufmerksamkeit so sehr auf den Anführer der Streuner fokussiert, dass alles andere zu
verschwinden schien. Er erinnerte sich auch an das kurze Flackern in den dunklen Augen, wie … ein Erkennen? Aber das war unmöglich. Bei jener Gelegenheit hatte er Dago zum ersten Mal gesehen.
    »Weil ich nicht sofort auf andere Menschen schieße«, antwortete Benjamin schließlich.
    »Beim Austausch auf dem Platz ist etwas zwischen euch passiert«, sagte Hannibal. »Ich hab es gespürt.«
    »Unsinn.«
    »Ihr kennt euch.« Hannibals Stimme klang schärfer. »Hat er dich zu uns geschickt, damit du uns ausspionierst? Wo hat er dich gefunden?«
    »Ist dies ein Verhör?«
    »Antworte mir!«
    Benjamin spürte, wie sich neuer Ärger in ihm regte. »Dies ist meine zweite Nacht in der Stadt. Louise hat mich gefunden und hierhergebracht.«
    »Vielleicht steckt sie mit dir und Dago unter einer Decke!«
    »Sie würde sich nicht mit Dago einlassen, Hannibal, das weißt du«, warf Abigale sanft ein.
    »Wer weiß, was er ihr für ihre Dienste gegeben hat. Und ihm! Vielleicht ist er vor einigen Wochen in der Stadt erschienen und von Dago gefunden worden. Er hat schon einmal versucht, jemanden bei uns einzuschleusen. Geht es um den Supermarkt?« Hannibal wandte sich an Abigale. »Vielleicht war der Angriff letzte Nacht Teil eines Täuschungsmanövers. Benjamin wird dabei zu einem Opfer, damit er nicht in Verdacht gerät. Wir nehmen ihn in unsere Gemeinschaft auf, und er sondiert die Lage, gibt Dago und seinen Leuten schließlich Gelegenheit, den Supermarkt zu übernehmen.
Hat der Plan so ausgesehen, Benjamin? Aber dann wollte es der Zufall, dass seine Waffe auf Jasmin zielte, und er konnte sie natürlich nicht erschießen, weil sie Dagos Freundin

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