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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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und fuhr durch sein struppiges blondes Haar.
    Ist er der Spion, der mich im Auge behalten soll?, fragte sich Benjamin. Obwohl »Spion« vielleicht das falsche Wort war. Ein Aufpasser. Jemand, der in Hannibals Auftrag darauf achtete, wie er sich verhielt, was er machte und sagte.
    »Apropos Nebel«, brummte Velazquez, der ein wenig verdrießlich auf dem Beifahrersitz saß. Er hatte seine Farben mitgenommen, aber noch kein passendes Motiv gefunden. »Seht euch das an.«
    Katzmann bremste, und der Wagen blieb mitten auf der Brücke stehen. Benjamin stieg zusammen mit den anderen aus und erinnerte sich an eine Fahrt auf dem Rhein, die er vor einigen Jahren mit Kattrin gemacht hatte. Der Fluss ohne Namen war an dieser Stelle so breit wie der Rhein bei Boppard, und ebenso braun. Er trat ans Geländer, sah zum Wasser
hinab und beobachtete einen dicken Ast, der träge auf den Wellen tanzte und unter der Brücke verschwand. Einige Sekunden verstrichen, und dann begriff er plötzlich, was er gesehen hatte.
    »He!« Er lief zur anderen Seite der Brücke. »Ein Ast schwimmt im Fluss! Da ist er!«
    »Manchmal schwimmen Äste in Flüssen«, sagte Velazquez weise. Er war ihm gefolgt und blickte übers Geländer.
    »Verstehst du denn nicht? Woher kommt der Ast? Ich habe keine Bäume oder andere Pflanzen in der Stadt gesehen, mit Ausnahme des kleinen Parks vor dem Hotel.«
    »Es gibt drei grüne Inseln in der Stadt, und natürlich Laurentius’ Baum, aber der ist eine Geschichte für sich«, dozierte Kowalski, der ebenfalls ausgestiegen war. Er rückte sich die Brille mit den rechteckigen Gläsern zurecht und blinzelte im Schein der falschen Sonne am Himmel. »Geschaffen von Fluktuationen in der Realitätsstruktur des Mikrokosmos, den wir ›Stadt‹ nennen. Eine ist der Park vor dem Hotel, wie du ganz richtig bemerkt hast, Benjamin. Die beiden anderen befinden sich an den Hängen von Aventin und Esquilin.« Er streckte die Hand aus und deutete, dem Sonnenstand nach zu urteilen, nach Norden. Zwei Hügel der Stadt ragten dort auf, vage graue Riesen im Morgendunst.
    »Dies ist nicht Rom«, sagte Benjamin.
    »Nein, leider nicht. Aber es sind sieben Hügel, nicht wahr? Wie in Rom. Deshalb habe ich sie nach den römischen Hügeln benannt.« Kowalski zog die Heckklappe des Patrouillenwagens auf, öffnete den großen, abgewetzten Koffer, den er mitgenommen hatte, und entnahm ihm eins seiner vielen Messinstrumente. Es bestand hauptsächlich aus beweglichen
Messingteilen und mehreren Linsen, die das Licht aus verschiedenen Richtungen einfingen und in ein Okular lenkten.
    Benjamin sah dem Ast hinterher, bis er in den braunen Fluten verschwand. »Der Baum, von dem der Ast stammt, muss sich irgendwo im Nebel befinden. Oder jenseits davon.«
    Und dort war er, der Nebel: eine graue Wand stromaufwärts, ein gestaltloser, gewaltiger Moloch, der langsam über den Fluss und die Bereiche rechts und links davon kroch. Er verschlang alles, was er berührte, und er brachte Kühle. Die Sonne schien, und es hingen nur wenige Wolken am Himmel, aber die Temperatur fiel. Benjamin fröstelte.
    »Das Elektrizitätswerk können wir uns abschminken«, sagte Katzmann. »Es ist schon halb im Nebel verschwunden.«
    Benjamin sah in die Richtung, in die er zeigte. Etwa zwei Kilometer entfernt, am anderen Ufer des Flusses, zogen graue Schwaden über die Außenanlagen eines Umspannwerks.
    »Ich stelle ernste Inkongruenzen fest«, verkündete Kowalski und blickte durchs Okular seines Instruments. Einige Messingteile drehten sich mit einem leisen Summen, angetrieben von einer Batterie. »Ich fürchte, der Ereignishorizont unseres gedehnten Moments verschiebt sich.« Er sah vom Okular auf. »Das erklärt den Nebel.«
    Velazquez wandte sich halb ab, fing kurz Benjamins Blick ein und verdrehte die Augen.
    Kowalski war um die fünfzig, klein und hager, hatte schütteres Haar und trug einen anthrazitfarbenen Anzug aus dem Supermarkt. Das silberne Gestell der Brille mit den schmalen,
rechteckigen Gläsern glänzte im Sonnenschein. Benjamin fand, dass Kowalski wie ein Universitätsprofessor im Ruhestand aussah. Er hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Townsend.
    José Maria Townsend.
    »Stimmt was nicht, Benjamin?«, fragte Velazquez.
    Wie angewurzelt stand Benjamin neben dem eingedrückten Kotflügel des Patrouillenwagens, starrte ins Leere und versuchte das Bild festzuhalten: ein Gesicht wie aus Stein gemeißelt, kantig und markant, die Augen grauschwarz, wie Kowalskis Anzug, ein

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