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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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ernster Mann, der in die Abgründe der menschlichen Seele geschaut und dort die Hölle gesehen hatte.
    Das Bild verschwand, wie knapp zwei Kilometer entfernt die Gebäude im Nebel. Benjamin lauschte einem vagen Erinnerungsecho, einer in unerreichbarer Ferne flüsternden Stimme, verstand jedoch kein Wort.
    »Benjamin?« Velazquez kam noch etwas näher und flüsterte: »Alle wissen, dass Kowalski verrückt ist. Lass dich von ihm nicht irremachen.«
    »Die Inkongruenzen nehmen zu.« Kowalski blickte wieder ins Okular und drehte an Einstellreglern. »Der Nebel kommt näher. Vielleicht erreicht er sogar die Brücke.«
    »Die Brücke?«, erwiderte Katzmann skeptisch. Benjamin sah den Revolver in seinem Gürtelhalfter, der Griff abgewetzt wie Kowalskis Koffer, und dachte an Dagos verchromten Colt. »Wir sind hier nicht weit vom äußeren Ring entfernt. So weit ist der Nebel noch nie gekommen.«
    Von Kowalskis Messgerät kam ein leises Sirren. Er ließ es sinken und sah auf eine Skala, an der ein dünner Zeiger zitterte.
»Wie ich es mir dachte. Kollabierende Wellenfunktion. Wir müssen auf alles gefasst sein.«
    Katzmann seufzte leise. »Leg deinen Realitätsdetektor, oder was auch immer das Ding ist, in den Koffer, Kowalski. Wir fahren.«
    Velazquez zog die Beifahrertür auf und griff nach dem Walkie-Talkie. »Ich gebe dem Gloria Bescheid.«
    »Geh bloß vorsichtig damit um«, sagte Katzmann. »Mikado macht dich zur Minna, wenn du sein kleines Spielzeug beschädigst.«
    Velazquez schaltete das Funkgerät ein. »Oskar, hörst du mich? Hier ist Gruppe Katzmann.«
    Zuerst kam nur das Knacken und Knistern aus dem Lautsprecher, das Benjamin auch in der ersten Nacht gehört hatte, als es Mikado nicht gelungen war, eine Verbindung mit dem Gloria herzustellen. Aber dann ertönte eine ferne Stimme. »Hier Oskar. Wie sieht’s bei euch aus?«
    »Nicht gut«, erwiderte Velazquez. Als er damit begann, Oskar die Situation zu schildern, schloss Kowalski die Heckklappe und näherte sich Benjamin.
    »Du bist neu«, sagte er leise und warf einen kurzen Blick zum Wagen. Katzmann saß wieder am Steuer, hatte die Tür aber noch nicht geschlossen. Offenbar behielt er den Nebel im Auge. »Die anderen … Sie halten mich für verrückt, weißt du. Aber das bin ich nicht. In Wirklichkeit gehöre ich zu den wenigen, die sich einen klaren Verstand bewahrt haben.«
    »Tatsächlich?«, erwiderte Benjamin.
    Kowalski rückte seine Brille zurecht. »Ich meine es ernst, Benjamin. Hältst du es vielleicht für normal, dass jemand
glaubt, wir alle seien von irgendwelchen Aliens entführt worden?«
    »Wenn du Velazquez meinst …«
    »Nicht so laut, Benjamin.« Kowalski sah erneut zum Patrouillenwagen. »Und dann dieser Limbus-Unsinn und der übrige religiöse Firlefanz. Religion, mein Lieber, ist nicht das Opium des Volkes, wie einmal jemand gesagt hat, sondern gewissermaßen der letzte Strohhalm für die verzweifelte Seele. Mit ihr versuchen die Menschen, dem Sinnlosen Sinn zu geben und die Leere des Todes durch etwas zu füllen.« Er hob den Zeigefinger. »Religion ist – abgesehen von einem Machtinstrument, mit dem man das Volk früher bei der Stange gehalten hat – Ausdruck von Hilflosigkeit dem Unbekannten gegenüber. Wir sind der beste Beweis dafür, wie absurd das ist. Wir sind tot. Bist du einem Gott begegnet? Na bitte, ich auch nicht. Ergo, es gibt keinen. Ergo, Religion ist Mumpitz. Oh, zugegeben, das Jenseits steckt voller Dinge, die uns rätselhaft erscheinen, aber mit den Mitteln der Wissenschaft werden wir ihnen früher oder später zu Leibe rücken. Wir brauchen keinen Gott, um das Unerklärliche zu erklären.« Kowalski reckte den erhobenen Zeigefinger, und bedeutungsvoller Ernst lag in den Augen hinter den rechteckigen Brillengläsern. »Wir haben die Wissenschaft. Eines Tages wird sie uns einen Weg aus der Stadt zeigen. Ob es Hannibal und Abigale gefällt oder nicht. Aber das bleibt besser unter uns, mein lieber Benjamin. Schließlich möchten wir auch weiterhin in den Supermarkt, nicht wahr?« Ein Zwinkern folgte den letzten Worten.
    »Erspar ihm deinen Die-Wissenschaft-schließt-alle-Türenauf-Quark, Kowalski«, sagte Velazquez laut und legte das
Walkie-Talkie in den Wagen. »Benjamin hat eine Predigt von Hannibal hinter sich. Ich schätze, das reicht ihm vorerst. Kommt jetzt, wir fahren.«
    Katzmann ließ den Motor an.
    »Wohin geht die Reise?«, fragte Benjamin, als sie im Patrouillenwagen Platz nahmen.
    »Wir sollen uns ein neues

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