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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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in der Stille der Bibliothek, als er schließlich, noch immer zitternd, von der letzten Sprosse trat. Einige Sekunden lang starrte er auf das Buch hinab, das keinen Titel trug, nur den Namen J. M. Townsend, hob es dann auf und öffnete es.
    Die Seiten waren leer. Enttäuscht und gleichzeitig erleichtert blätterte er, fand aber nirgends einen einzigen Buchstaben. Nach kurzem Zögern klappte er das Buch zu und steckte es ein.
    »Was ist mit mir los?«, fragte Benjamin. »Warum geraten meine Erinnerungen durcheinander?«
    Diesmal schien ihm die Bibliothek zu antworten, mit einem leisen Ticken, das von der Tür in der Rückwand kam. Benjamin näherte sich ihr, den Mund geöffnet wie ein staunendes Kind, und befürchtete, dass sich das Ticken als Halluzination
erwies. Aber es verlor sich nicht in der Stille, wurde sogar lauter, als er die Tür öffnete und ein großes Lesezimmer betrat, mit Dutzenden von Stühlen und Sesseln an kleinen Tischen. Halb zugezogene Vorhänge hingen an den Fenstern, und deshalb gab es hier mehr Schatten als im Saal. Benjamin ging an den ersten Sesseln vorbei, lauschte einem vertrauten Tick-tack und fand schließlich die Uhr, von der es stammte: ein großes Zifferblatt zwischen den Porträts zweier ernst wirkender Männer in mittelalterlicher Kleidung, ausgestattet mit drei Zeigern, von denen einer im Sekundenrhythmus über die Markierungen am Rand wanderte. Es war neun Uhr und einundzwanzig Minuten. Darunter stand das Datum: Donnerstag, siebter Tellember des Jahres 10371.
    Benjamin starrte auf die Buchstaben und Zahlen, versuchte zu verstehen und glaubte, einen besonderen Wind zu spüren, der nicht in hohen Baumwipfeln rauschte, sondern seine Gedanken wie welkes Laub durcheinanderwirbelte. Er hatte noch nie von einem Monat gehört, der Tellember hieß, und die Jahresangabe … Bedeutete sie, dass die Stadt über zehntausend Jahre alt war?
    Der Sekundenzeiger erreichte die Zwölf ganz oben, und mit einem leisen Klicken rückte der Minutenzeiger auf den zweiundzwanzigsten Strich.
    Benjamin fühlte sich plötzlich wie erstickt von verstreichender Zeit, drehte sich um und floh aus dem Lesezimmer mit der tickenden Uhr.

    Als er in das Büro im ersten Stück zurückkehrte, saß Louise mit angezogenen Knien in der dunkelsten Ecke des Zimmers und weinte. Sie sah nur kurz auf, die Augen voller Tränen.

    »In dieser Stadt kann man nicht einmal sterben und tot bleiben«, schluchzte sie. »So sehr man sich auch bemüht. Man wird immer wieder lebendig. Man müsste ins Loch springen, aber davor habe ich Angst!«
    Benjamin ging vor ihr in die Hocke und wollte ihr übers Haar streichen, doch bevor seine Hand den Kopf erreichte, zog er sie wieder zurück.
    »Bist du deshalb hierhergekommen?«, fragte er. »Ist das der Grund? Wolltest du sterben?«
    »Die Stadt spielt mit uns, Ben«, jammerte Louise. »Und es ist ein grausames Spiel. Sie lässt uns keinen Frieden finden.« Sie hob den Kopf weit genug, um ihn über die Knie hinweg anzusehen. »Warum bist du gekommen? Warum hast du mich nicht auf dem Hof liegen lassen? Vielleicht hätten mich die Kreaturen zerfleischt. Dann wäre es endlich mit mir zu Ende gewesen.«
    »Ich habe dich von Laurentius’ Hügel aus durchs Teleskop gesehen und …«
    »Wieso bist du hier ?«, fragte Louise plötzlich und hob den Kopf noch etwas mehr. »Ich meine, wie bist du an den Fallen vorbeigekommen?«
    Benjamin schilderte, wie er mit Steinen geworfen und so Fallen ausgelöst hatte. Er erzählte von der Grube und dem Nebel, und Laslo fiel ihm erst ganz am Schluss ein. »Ich dachte, dass er einen sicheren Weg zur Bibliothek kennt, aber er hatte keine Ahnung.«
    »Es hat ihn erwischt?«, fragte Louise, schniefte und wischte sich mit dem Ärmel Tränen von den Wangen.
    »Ja.«
    Louise stand auf. »Das möchte ich sehen.«

    Sie gingen in den obersten Stock der Bibliothek und betraten ein Zimmer, das sich über dem Tor befand und von dem aus man in die Richtung sehen konnte, aus der Benjamin gekommen war. Unterwegs blieb Louise mehrmals auf der Treppe stehen, lehnte sich an die Wand und schnappte nach Luft. Sie war noch sehr geschwächt, und erst langsam kehrte Farbe in ihr Gesicht zurück.
    Durchs Fenster sahen sie über die Ruinen hinweg, und Benjamin deutete zu der Stelle, wo Laslo inzwischen von der Stange gerutscht war, die fleckig von seinem Blut aus einer halb eingestürzten Mauer ragte.
    »Er war ein Arschloch«, sagte Louise. Sie hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten,

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