Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
Vom Netzwerk:
auf alle Fragen, die ihn beschäftigten. Die Anzahl der Bücher und Schriftstücke in der Bibliothek ließ sich nicht annähernd abschätzen; sie gingen in die Hunderttausende, vermutete Benjamin, vielleicht sogar in die Millionen. Ein Saal mit vollen Regalen folgte dem anderen, flankiert von Lese- und Studierzimmern, in denen oft Porträts würdevoller Männer und Frauen hingen. Vielleicht, dachte Benjamin, waren es Professoren oder altehrwürdige Bibliothekare. Als er Louise darauf hinwies, schüttelte sie den Kopf und sagte:
    »Einen solchen Denkfehler hast du schon einmal gemacht, Ben. Diese Stadt entwickelt sich nicht von der Vergangenheit in die Zukunft, und sie hat auch keine Geschichte im uns vertrauten Sinn. Sie war nie voller gewöhnlicher Menschen, die morgens zur Arbeit gingen oder hierherkamen, um für ihr Studium zu lernen. Die Stadt war immer statisch.«
    »Obwohl sie wächst«, sagte Benjamin und betrachtete das Bildnis einer streng blickenden, viktorianischen Frau. Das verstaubte Bild neben ihr zeigte einen sehr ernsten Mann um die siebzig, mit grauen Augen und einem Monokel an einer dünnen Kette.

    »Ja«, sagte Louise und ging an den nahen Regalen entlang. »Die Stadt wächst und verändert sich, und doch bleibt sie immer gleich. Es ist eine Stadt der Toten. Sie empfängt jene, die in der anderen Welt gestorben sind.«
    »Aber nicht alle«, murmelte Benjamin. »Nur einige. Warum? « Als Louise nicht antwortete, fuhr er fort: »Laurentius glaubt, dass sich die Stadt immer dramatischer verändert. Er hat davon geträumt, dass der Supermarkt verschwindet.«
    »Das wäre schlimm«, sagte Louise betroffen. »Ich hoffe, dass sich Laurentius dieses eine Mal irrt. Ich meine, Hannibal würde ich es gönnen, aber ohne den Supermarkt wäre das Leben für uns alle verdammt schwer.«
    Benjamin wandte sich von den Porträts ab. »Nach meinem Gefühl ist mehr als eine Stunde vergangen. Es wird bald zwölf Uhr und damit Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.«
    »Es sei denn, wir bleiben noch einen Tag hier und setzen die Suche fort«, sagte Louise. »Wir haben noch ein paar Äpfel, und Wasser gibt’s im Keller. Es hätte kaum einen Sinn, wenn ich mit leeren Händen zurückkehre. Außerdem würde es bedeuten, dass du dich in aller Ruhe nach deinem Lebensbuch umsehen kannst.«
    Für einen Moment fühlte sich Benjamin in Versuchung geführt. Die Aussicht zu erfahren, wie er gestorben war und was es mit Townsend und den seltsamen Szenen auf sich hatte, an die er sich zu erinnern glaubte, war sehr verlockend. Aber es stand keineswegs fest, dass sie sein Lebensbuch bei einer längeren Suche finden würden – vielleicht befand es sich gar nicht in der Bibliothek. Außerdem hatte er das Gefühl, dass die Zeit drängte.

    »Der nächste Ballon ist vielleicht ein richtiger und dient keinen Testzwecken. Laurentius hat von einer echten Chance gesprochen, die Stadt zu verlassen.«
    »Willst du zu der anderen Stadt, deren Lichter du im Nebel gesehen hast?«, fragte Louise. Es klang irgendwie müde, fand Benjamin.
    »Ich habe sie wirklich gesehen, und sie war voller Lichter!« Benjamin erwähnte nicht, dass er auch die Stadt, in der sie sich befanden, voller Lichter gesehen hatte, während der Elektrostunde. »Bestimmt gibt es dort Menschen!«
    »Und wer sagt dir, dass sie es besser haben als wir hier?«
    »Können sie es schlechter haben? Diese Stadt hier ist ein Gefängnis. Dago und Hannibal haben sie dazu gemacht.«
    »Und dort draußen erhoffst du dir Freiheit und Erleuchtung ?«, fragte Louise mit unüberhörbarer Ironie.
    »Interessiert dich gar nicht, was sich dort draußen befindet ?«, erwiderte Benjamin.
    »Ich fürchte, ich weiß es schon. Dort draußen wimmelt es von Kreaturen.«
    Benjamin breitete die Arme aus. »Was haben wir zu verlieren ?«
    »Nicht viel, zugegeben«, sagte Louise. Sie seufzte erneut. »Na schön.«
    Benjamin folgte ihr zur Tür und wollte das Zimmer verlassen, als er im Regal auf der rechten Seite, dicht neben dem Vorhang am Fenster, einen schmalen lindgrünen Streifen bemerkte. Neugierig trat er näher und zog ein dünnes Buch aus dem Regal. Auf dem Deckel zeigten sich silberne Schnörkel und zu kleinen Gruppen angeordnete Punkte, und als Benjamin sie betrachtete, gerieten sie in Bewegung und bildeten
lesbare Buchstaben. »Dr. Bertrand Gilbert Du Pont«, stand dort geschrieben, »genannt ›Agostino‹.«
    »He, das ist ein Lebensbuch!« Louise war mit einigen schnellen Schritten an seiner

Weitere Kostenlose Bücher