Die Stadt - Roman
zog einen Stuhl heran und sank darauf. »Mein Güte, ich fühle mich schrecklich!«
»Möchtest du was zu essen?« Benjamin holte einen Apfel hervor. »Stammt von Laurentius’ Baum. Achte auf die Kerne. Medizin habe ich leider nicht.«
Louise biss heißhungrig hinein. »Wie ist es mit Wasser? Ich habe großen Durst. Vermutlich habe ich viel Blut verloren.«
Benjamin schüttelte den Kopf. »Laurentius muss gestern Morgen mit meinem Rucksack aufgebrochen sein. Ich konnte ihn nirgends finden.«
»Du bist nur mit den Äpfeln in den Taschen losgezogen, ohne Wasser?« Louise sah ihn ungläubig an.
Benjamin zuckte die Schultern.
»Ziemlich blöd von dir.«
»Ich wusste nicht, dass dies ein Intelligenztest ist!«
»Meine Güte, Ben, das ganze verdammte Leben ist ein Intelligenztest. « Louise machte eine Geste, die der Stadt galt. »Und der Tod erst recht, wie mir scheint. Vielleicht stellt uns
etwas auf die Probe. Vielleicht ist die Stadt ein Test, den wir bestehen müssen, wenn wir richtig leben wollen. Oder richtig sterben«, fügte sie hinzu. »Hast du die Lebensbücher gefunden?«
»Nein.«
Mit einem leisen Ächzen stand Louise auf. »Lass uns nach ihnen suchen. Und nach Wasser.« Sie sah noch einmal aus dem Fenster. »Laslo war ein Arschloch, aber dies hat er nicht verdient. Wenn er im Nebel erwacht, erwischen ihn die Kreaturen. Und wenn er außerhalb des Nebels zu sich kommt, dort in den Ruinen, gerät er mit ziemlicher Sicherheit erneut in eine Falle.«
»Vielleicht können wir ihn auf dem Rückweg mitnehmen«, sagte Benjamin und dachte zum ersten Mal daran, dass sie die Ruinen noch einmal durchqueren mussten.
Louise sah ihn groß an. »In jener Richtung kämen wir keine zehn Meter weit. Es gibt nur einen Weg, der wenigstens für zehn Minuten Sicherheit bietet, von zwölf bis zehn nach zwölf. Ich hab den Stand der Sonne beobachtet und bin losgelaufen, als sie genau im Zenit stand, aber offenbar habe ich das Zeitfenster nicht genau genug getroffen. Die Speere erwischten mich, als ich den Zaun erreichte. Ich konnte mich noch bis zum Innenhof schleppen, und dann bin ich gestorben.«
»Zehn Minuten?«, fragte Benjamin nachdenklich.
»Ja. Da wir keine Uhr haben, bleibt uns nichts anderes übrig, als die Sonne zu beobachten und zu hoffen, dass wir Glück haben.«
Die Verlegenheit, die Benjamin während der letzten Momente begleitet hatte, fiel von ihm ab. »Vielleicht haben wir doch eine Uhr«, sagte er.
36
Im Keller hatten sie einen Waschraum gefunden, in dem Wasser aus einem Hahn kam, und nachdem Louise getrunken und noch einen von Laurentius’ Äpfel gegessen hatte, ging es ihr besser.
»Davon hat nie jemand berichtet«, sagte sie und deutete zu der analogen Uhr zwischen den beiden Porträts. Sie zeigte zwei Minuten nach zehn, und es war noch immer der siebte Tellember des Jahres 10371, was auch immer das bedeutete.
»Die Bibliothek ist groß«, erwiderte Benjamin. »Die Leute, die vor uns hier waren, haben vielleicht nicht alle Zimmer gesehen.«
»Ich kenne nur einen, der vor uns hier war: Hannibal.«
Benjamin sah sie erstaunt an.
»Als ich noch zur Gemeinschaft gehörte … Er hat sich sehr um mich gekümmert. Mit großem Engagement.«
Benjamin hörte den besonderen Tonfall in ihrer Stimme. »Meinst du …?«
»Ja, er wollte mir an die Pelle. Hat’s nicht besonders geschickt angestellt; vielleicht war er außer Übung. Abigale schien etwas zu ahnen, denn sie behielt uns genau im Auge. Nun, er führte mich herum, auch in das Zimmer mit der Tafel und den Stecknadeln.«
Benjamin nickte. »Die Nadeln hat er auch mir gezeigt.«
»Hast du das Regal über dem alten, durchgesessenen Sessel gesehen?«
Benjamin rief sich das Zimmer ins Gedächtnis zurück »Ja. Es standen einige Bücher darauf, schmal und lindgrün, wenn ich mich recht entsinne.«
»Lebensbücher von Mitgliedern der Gemeinschaft«, sagte Louise. »Er fand sie damals in der Bibliothek. Er hatte auch meins, aber es stand nicht bei den anderen. O nein, es hatte einen Sonderplatz, in einer Schublade seines Nachtschränkchens. Bettlektüre für unseren Herrn Saubermann: die Geschichte meines Lebens.«
Benjamin musterte Louise und wusste, dass dies nicht der richtige Zeitpunkt war, Fragen zu stellen.
»Vielleicht glaubte er deshalb, leichtes Spiel mit mir zu haben«, fuhr Louise fort, während ihr Blick wie gebannt dem Sekundenzeiger übers Zifferblatt folgte. »Als sich mir Gelegenheit bot, stahl ich ihm den Schlüssel und schlich
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