Die Stadt - Roman
mich in sein Zimmer. Ich wollte mein Lebensbuch holen, aber es lag nicht im Nachtschränkchen. Stattdessen fand ich Aufzeichnungen, die er von seinem Besuch in der Bibliothek angefertigt hatte. Daher weiß ich, wann und wie man die Bibliothek verlassen kann. Er erwischte mich in seinem Schlafzimmer und …« Louise hob und senkte die Schultern. »Am nächsten Tag warf er mich unter einem Vorwand raus. So viel zu seiner Vorstellung von Gut und Böse.«
Ihren Worten folgte eine Stille, in der man nur das Ticken der Uhr hörte.
Benjamin überlegte und fand eine logische Lücke in Louises Schilderungen. »Woher wusste Hannibal von dem Zehn-Minuten-Fenster, das es erlaubt, die Bibliothek zu verlassen?«
»Er fand es damals mit den Computern heraus.«
»Es gibt hier Computer?«
»Im obersten Stock. In der Verwaltung der Bibliothek.«
»Komm, das sehen wir uns an.«
Sie fanden ein Großraumbüro, mit Raumteilern, die einst die Illusion von Privatsphäre hatten schaffen sollen. Aber die Schreibtische und Schränke waren leer, und von Computern fehlte jede Spur.
»Vielleicht hat die Stadt sie verschwinden lassen«, sagte Louise. »Wir könnten ohnehin nichts mit PCs anfangen, weil es keinen Strom gibt. Hannibal hatte damals Glück. Als er hier war, begann eine Elektrostunde.«
Benjamin ging zur Fensterfront und blickte dort auf die Ruinen hinab. Die Stadt war so nah, und doch fern, hinter einer Barriere aus tödlichen Fallen. Laslo lag reglos vor den Resten der Mauer, über ihm die spitze Stange, die ihn durchbohrt hatte.
»Er tut mir leid«, sagte er. »Ich habe ihn gezwungen, mich zu begleiten. Weil ich dachte, dass er einen sicheren Weg zur Bibliothek kennt.«
Louise sah ihn von der Seite an. »Warum bist du hierhergekommen, trotz der Fallen?«
»Ich konnte dich doch nicht einfach so auf dem Hof liegen lassen.«
»Ben … Ich bin nicht Kattrin.«
»Ich weiß«, erwiderte er langsam. »Vielleicht gibt es gar keine Kattrin. Vielleicht gab es sie nie. Der Tod, an den ich mich zuerst erinnerte … Ich glaube, ich bin gar nicht auf jene Weise gestorben. Es ist eine falsche Erinnerung.«
»Eine falsche Erinnerung?«
Benjamin sah noch immer nach draußen. »Mein Gedächtnis liegt in Scherben. Ich bin dabei, die einzelnen Teile aufzusammeln, aber ich kann sie einfach nicht richtig zusammensetzen. Ich erinnere mich an verschiedene Tode.«
»In der anderen Welt kann man nur einmal sterben«, sagte Louise.
»Der Tod ist ein Dieb, nicht wahr? Vielleicht bin ich hier zum zweiten Mal gestorben, als mich der Schatten berührte.« In knappen Worten berichtete er von den Ereignissen nach dem Erwachen in Louises Quartier bis zur Begegnung mit Laurentius. »Vielleicht hat mich der Tod zweimal bestohlen. Vielleicht weiß ich deshalb nicht, was mit mir los ist. Ich …« Benjamin suchte nach geeigneten Worten. »Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich mir dies alles nur einbilde, dass die Stadt gar nicht wirklich existiert. Vielleicht liege ich irgendwo im Koma.« Er lächelte schief. »Oder ich sitze noch bei Laurentius in seinem Observatorium, atme den Rauch verbrennender Apfelkerne und träume dies alles im Drogenrausch.«
Louise lachte bitter. »Für ein Produkt deiner Phantasie fühle ich mich sehr real. Du wärst nicht der Erste, der hier überschnappt, Ben, und deshalb sage ich dir: Was auch immer du denkst und fühlst – mach nicht den Fehler, die Realität der Stadt in Zweifel zu ziehen. Wir sind hier, dies ist das Jenseits, und es ist keine Metapher, sondern die Wirklichkeit. Nur auf dieser Grundlage kannst du versuchen, Antworten auf deine Fragen zu finden.« Sie seufzte leise. »Wir verlieren wertvolle Zeit, Ben. Wie spät ist es jetzt?«
»Etwa halb elf?«
»Uns bleiben noch anderthalb Stunden, bis sich das Zeitfenster für den sicheren Weg zurück in die Stadt öffnet. Bis dahin müssen wir Lebensbücher finden. Nur damit kann ich mir Zugang zum Supermarkt kaufen.«
»Den brauchst du gar nicht.« Benjamin lächelte erneut,
nicht so schief wie zuvor. »Wir verlassen die Stadt. In einem Heißluftballon.«
»Du bist übergeschnappt«, sagte Louise.
Eine gute Stunde lang durchstreiften sie die Bibliothek. Hannibals Aufzeichnungen hatten keinen Hinweis darauf enthalten, in welchem Teil des großen Gebäudes die Lebensbücher untergebracht waren. Louise bestand darauf, trotzdem zu suchen und auf ihr Glück zu vertrauen. Benjamin gab nach, weil er hoffte, sein eigenes Lebensbuch zu finden, und darin Antworten
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