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Die Stadt - Roman

Titel: Die Stadt - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Brandhorst
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hatte er nicht eine einzige Öllampe gefunden, vielleicht aus gutem Grund. »Was passiert, wenn hier jemand ein Feuer anzündet und ein Brand ausbricht?«, fragte er die Stille, biss in den zweiten Apfel und
achtete darauf, keine Kerne zu verschlucken. Er trug noch immer den am rechten Ärmel aufgerissenen Parka, denn es war kalt. »Würde es die Stadt zulassen, dass ihre Bibliothek abbrennt, mit all den Büchern darin?«
    Es waren viele Bücher. Allein dieser Saal, der zwei Stockwerke umfasste und mehr als fünfzig Meter lang war, enthielt Tausende, vielleicht sogar Zehntausende. In Dutzenden von Reihen füllten sie die Regalwände, ohne eine einzige Lücke zwischen ihnen. Rollleitern gestatteten Zugang auch zu den Büchern ganz oben. Benjamin ging langsam an der einen Seite entlang, während er seinen Apfel aß, den Rest mit den Kernen schließlich in einen leeren Abfallkorb warf und sich fragte, ob er auf Jahre hinaus dort drin liegen bleiben würde.
    In der Nähe eines Fensters, durch das genug Licht fiel, betrachtete er breite Buchrücken und las die Titel, die er entziffern konnte.
    »Heliographische Erkenntnisse«, lautete einer, verfasst von einem gewissen R. P. Hoffmann. »Simplizistische Reifungen in goldumrandeten Blütenblättern«, lautete ein anderer, vom gleichen Autor. Neugierig geworden sah sich Benjamin weitere Bücher an und stellte fest, dass sie alle von R. P. Hoffmann stammten. Werke wie »Ockerfarbene Enttäuschungen«, »Ein Schritt zurück führt schnell zum Ziel«, »Der Geschmack der Zeit« und »Die Vermessung des Zorns« trugen den Namen dieses Autors. Benjamin wandte sich einer Leiter zu, rüttelte an ihr und gelangte zu dem Schluss, dass er ihrer Stabilität vertrauen durfte, wenn er sie nicht zu sehr auf die Probe stellte. Er kletterte nach oben, achtete nicht mehr auf die Titel der Bücher, sondern nur noch auf die Autorennamen. R. P. Hoffmann, wohin er auch sah. Er zog sich an
den Regalwänden entlang, und unten quietschten die Rollen, als sich die Treppe bewegte. Benjamins Blick wanderte über die beiden obersten Buchreihen, dicht unter der mit Stuck verzierten Decke, und auch dort sah er nur Hoffmann-Werke, die unmöglich alle vom selben Autor stammen konnten – ein einzelner Mensch war bestimmt nicht imstande, so viel zu schreiben, selbst in hundert Jahren nicht. Dann fiel ihm ein etwas hellerer, fleckiger Buchrücken auf, so schmal, dass der Name des Autors nicht horizontal darauf geschrieben stand, sondern vertikal: J. M. Townsend.
    Verblüfft zögerte er kurz, bevor er die Hand nach dem Buch ausstreckte und es aus dem Regal zog. Er öffnete es, und sofort sprangen ihm Worte entgegen.
    Du musst dich erinnern, Benjamin.
    Ganz oben auf der Treppe stand er, das Buch in plötzlich zitternden Händen. Er blätterte darin, nach vorn gebeugt, damit er nicht von der Leiter fiel, und auf allen Seiten stand dieser Satz: Du musst dich erinnern, Benjamin. Aber woran? Er blätterte immer schneller, auf der Suche nach einem Hinweis, und auf der letzten Seite fand er die Worte: Denk an die Assoziationen.
    Das Bild vor seinen Augen verschwamm, und er hörte die Stimme des Windes in hohen Baumwipfeln. Ein Gesicht erschien vor ihm, aber es war nicht Kattrins Gesicht, sondern eine Fratze, die einem Mann gehörte – die Augen traten aus den Höhlen, und die Zunge zappelte zwischen den Lippen, als wollte sie aus dem Mund fliehen. Ich habe es mir versprochen, dachte er, während er noch fester zog. Ich habe mir versprochen, dich zu töten, und du bist so dumm gewesen, meine Hände frei zu geben. Siehst du sie? Nein, sehen kannst
du sie nicht, aber fühlen, an deinem Hals, wie sie den Draht immer enger zusammenziehen. Wie fühlt es sich an zu sterben, Townsend?
    Benjamin ließ das Buch fallen, schlang beide Arme um die Leiter und hielt sich fest, da er am ganzen Leib zitterte. Er schloss die Augen und sah andere Bücher in einer kleineren Bibliothek. Menschen befanden sich in der Nähe, einige von ihnen in Uniformen oder Kitteln. Er kannte diesen Ort, er war vertraut, vertrauter als die Stadt der lebenden Toten.
    Er öffnete die Augen wieder, empfing das graue Licht des nächsten Fensters, von Staub gefiltert, und sah eine blasse Sonne, die über den Dächern der Stadt aufstieg. Das Rauschen von Wind in hohen Baumkronen begleitete ihn, als er langsam nach unten zurückkehrte, vorsichtig, eine Leitersprosse nach der anderen. Das Rauschen wurde immer leiser, je näher er dem Boden kam, und verlor sich

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