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Die Stadt unter dem Eis

Die Stadt unter dem Eis

Titel: Die Stadt unter dem Eis Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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anderen Seite wieder hinaus. Statt des
erwarteten Gewirrs aus Kanten und reißenden Spitzen befand
sich vor ihnen eine schräge, vollkommen glatte Fläche, über die
sie wie auf einer von der Hand der Natur modellierten
Rutschbahn in die Tiefe schlittern konnten. Unten angekommen
sprangen sie sofort wieder auf die Füße und hetzten weiter.
    Mike sah mit klopfendem Herzen über die Schulter zurück.
Der Felsspalt, aus dem sie herausgekommen waren, blieb leer.
Entweder es war Trautman tatsächlich gelungen, ihre Verfolger
aufzuhalten, oder sie hatten die Jagd abgebrochen und gaben
sich mit einem Gefangenen zufrieden. Zu seiner Erleichterung
hörte er jedoch auch keine weiteren Schüsse.
    Trotzdem rannten sie noch eine ganze Weile weiter, ehe sie es
zum ersten Mal wagten, anzuhalten. Mike ließ sich schwer
atmend auf einen Eisklotz sinken, während Kanuat trotz der
kräftezehrenden Hetzjagd noch geradezu unverschämt frisch
wirkte.
»Haben wir es geschafft?«, keuchte Mike.
    »Für den Moment«, sagte Kanuat. »Aber sie werden nicht
aufgeben. Wir sind noch nicht in Sicherheit.«
»Ich brauche einen Moment Ruhe«, presste Mike hervor. Sein
Herz raste, als wollte es jeden Moment aus seinem Hals
herausspringen. »Sind wir ... weit von deinem Schlitten
entfernt?«
Kanuat sah sich einen Moment unschlüssig um, ehe er
antwortete. »Ehrlich gesagt weiß ich es nicht«, gestand er.
»Sie haben sich verirrt?«
»Wir«, verbesserte ihn Kanuat. » Wir haben uns verirrt. Aber
damit hast du leider Recht. Hier sieht alles gleich aus. Und ich
war noch nie hier.«
Das stimmt, dachte Mike niedergeschlagen. In dem Gewirr
bizarr geformter Eisstrukturen und Spalten war es
wahrscheinlich vollkommen unmöglich, sich nicht zu verirren.
»Der Schlitten würde uns sowieso nichts nutzen«, murmelte
er. »Sie würden uns sofort sehen, wenn wir uns auf das Eis
hinauswagen.« Er sah Kanuat Verzeihung heischend an. »Es tut
mir Leid.«
»Was?«
»Dass wir Sie in diese Situation gebracht haben«, sagte Mike.
»Sie hätten auf Ihre innere Stimme hören und uns davonjagen
sollen. Wir hatten kein Recht, Sie um Hilfe zu bitten.«
»Es war meine Entscheidung«, antwortete Kanuat.
»Außerdem ist es sinnlos, einmal gemachte Fehler zu
bejammern.«
Mike war ein bisschen enttäuscht. Er hatte gehofft, dass
Kanuat ihm heftiger widersprechen würde. Stattdessen fuhr der
Inuit fort:
»Es muss einen Weg in diesen Berg hinein geben. Jetzt, da
wir wissen, dass es ihn gibt, werden wir ihn auch finden.«
»Wenn die Deutschen uns nicht vorher einfangen.« Mike
stand auf. »Aber Sie haben Recht. Je eher wir mit der Suche
anfangen, desto –«
Der Boden unter ihm gab nach. Das vermeintlich massive Eis,
auf das er den Fuß setzte, erwies sich als kaum fingerdicke
Schicht, die unter seinem Gewicht wie Glas zersplitterte.
Darunter kam ein gut metergroßer, kreisrunder Schacht zum
Vorschein, der im steilen Winkel in eine bodenlose Tiefe
hinabführte.
Mike schrie auf, warf sich in einer verzweifelten Bewegung
zurück und griff nach irgendeinem Halt. Kanuat seinerseits griff
mit beiden Händen zu, bekam im buchstäblich allerletzten
Moment Mikes Handgelenk zu fassen
– und machte die
Katastrophe damit komplett.
Kanuat war alles andere als ein Schwächling, aber auf dem
spiegelglatten Boden fand er einfach nicht den Halt, der
notwendig gewesen wäre, um Mike aufzufangen. Statt seinen
Sturz zu bremsen, wurde er ebenfalls aus dem Gleichgewicht
gerissen und stürzte zusammen mit ihm hilflos in die Tiefe.
Der Aufprall hätte zweifellos ihr Ende bedeutet, wäre der
Schacht bis zum Ende so senkrecht verlaufen wie oben. Seine
Neigung nahm jedoch mehr und mehr ab, sodass sie bald mehr
durch die Röhre schlitterten als stürzten, und am Ende gab es
nur noch eine sanfte Neigung. Der Schacht endete in weniger
als einem halben Meter Höhe in einer senkrechten Wand aus
Stein. Statt des tödlichen Aufpralls, auf den Mike gefasst war,
plumpsten sie nur unsanft zu Boden. Trotzdem blieb Mike fast
eine Minute lang reglos liegen und lauschte in sich hinein. Es
dauerte eine Weile, bis er sich eingestand, noch am Leben zu
sein.
Vorsichtig öffnete er die Augen, richtete sich behutsam auf
und sah sich um. Im ersten Moment war er dann doch nicht
mehr sicher, noch am Leben zu sein; oder doch zumindest nicht
mehr bei klarem Verstand. Was er sah, war so unglaublich, dass
es ebenso gut aus einem Traum hätte stammen können.
Sie befanden sich in einer riesigen, ganz aus bläulich
schimmerndem

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