Die Statisten - Roman
nicht vor, dort alt zu werden, ganz gewiss nicht. Es war ein temporärer Job und mehr nicht. Aber wenigstens hatte er endlich Ruhe vor seiner Mutter. Anfangs hatte sie ihn ein paar Mal gefragt, warum er als Automechaniker bis spät in die Nacht arbeiten musste, und er hatte leichthin erwidert, er arbeite bei einer groÃen Autoreparaturwerkstatt, ja, einer der gröÃten, und da gebe es immer einen Auftragsüberhang, und auÃerdem würde von einem Lehrling eben erwartet, dass er Ãberstunden machte und keine Fragen stellte, weil es eine lange Schlange von jungen Arbeitslosen gebe, die nur darauf warteten, ihm den Job wegzuschnappen.
Das war allerdings schon eine ganze Weile her, und er wunderte sich etwas, dass sie nicht mehr nachfragte. Einmal hatte eine Bekannte aus dem Haus (seine Mutter hatte keine Freundinnen), die vorbeigekommen war, um sich etwas Zucker zu borgen, Eddie schnippisch gefragt, ob er als Mechanikerlehrling ganztags angestellt sei oder ob er sich einen Zweitjob bei den Schönen der Nacht zugelegt habe. Violet hatte pflichtschuldigst geschnaubt und erwidert, dass ihr Eddie, anders als andere Kinder, eine einträgliche Anstellung habe, und beiläufig hinzugefügt, Eddie sehe sich ohnehin nach einer geeigneten Immobilie um, um sein eigenes Autohaus mit angeschlossener Reparaturwerkstatt zu eröffnen. Da kam Eddie der Gedanke, dass seine Mutter, solange er die Haushaltskasse mitfütterte, es vorzog, nicht zu viel über seinen Job zu wissen.
Soweit es Eddie betraf, hatte Auntie zwei Sorten von Gästen: diejenigen, die ihm ein Trinkgeld gaben, und die anderen â wenngleich letztere in der Regel sehr spendabel wurden, sobald sie sich übergeben hatten und alle übrigen Gäste sich die Nase zuhielten und auf den Gemeinschaftsbalkon hinausgingen, bis Eddie den FuÃboden mit einem parfümierten Putzmittel gewischt hatte.
Dann gab es allerdings noch einen weiteren Gast, der ein Typ für sich war. Sein Name war Ardeshir Bharucha, und er war Eddies Liebling. Er war eins neunzig lang, klapperdürr und hatte bei der letzten Bestandsaufnahme eintausendzweihundertfünfundvierzig Knochen im Leib gehabt, das ist etwa das Sechsfache der für die männliche Spezies zulässigen Höchstzahl. Er hatte siebzehn Ellbogen und fünfundvierzig Hände sowie ungezählte Knie. Es war für ihn anatomisch unmöglich, auch nur die Augen zu schlieÃen, ohne die Glühbirne von der Decke zu schmettern, einen Tisch umzurempeln oder ein Dutzend Bierkrüge vom hohen Wandregal zu fegen. In Aunties Lokal kam er nur, indem er sich wie ein Zollstock zusammenfaltete und das Kinn zwischen die Knie klemmte. Er war vereidigter Buchprüfer und erschien bei Auntie unfehlbar an den ersten sieben Abenden des Monats. Danach lieà er sich drei Wochen lang nicht blicken. Dann, sagte er, wurde das Arbeitsaufkommen in seiner Firma zu hoch, als dass er sich würde freinehmen können.
Am Ersten des Monats entfernte Mrs Fernandes sämtliche zerbrechlichen Gegenstände, an die sie herankam, aus der Schankstube, aber Ardeshir schaffte es immer, doch noch irgendetwas zu finden, was sich kaputt machen lieÃ, wie zum Beispiel seine eigene dioptriendicke Brille, den Lampenschirm, seinen Kopf, seine Rippen oder was sonst gerade zur Hand war. Er war ein konsequenter Trinker, der allerdings niemals betrunken wurde. Er geriet nie ins Schwatzen, bekam nie eine schwere Zunge und kotzte auch nie, egal wie wüst alle ringsum am Würgen waren. Er hatte nur zwei Hobbys, oder besser gesagt Obsessionen: Motorräder und Musik.
Er war ein eingefleischter Biker ohne Bike. In Indien waren nur drei oder vier Marken erhältlich, und von denen auch nur antiquierte Modelle. Doch Ardeshir kannte jedes Motorrad, das je auf der Welt hergestellt worden war, in- und auswendig: Reihe, Modell, PS-Zahl, Hubraum, Reifenbreite, StraÃenhaftung, Zahl der Sekunden von null auf hundert, und ohne eines Anlasses, Vorwands oder einer Ermutigung zu bedürfen, konnte er darüber stundenlange Vorträge halten, auÃer ⦠auÃer man schaltete das Radio oder den Plattenspieler ein. Die Wirkung trat fast augenblicklich ein, als habe er in einem einzigen Atemzug eine meilenlange Linie Koks gezogen. Er stand langsam auf, ohne es selbst zu merken, lächelte geistesabwesend und begann, sich hin und her zu wiegen. Dann rief er nach Mrs Fernandes, wenn sie in der anderen Hälfte des Zimmers
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