Die Stein-Strategie: Von der Kunst, nicht zu handeln (German Edition)
der Gefahrensituation zu mobilisieren. Ist die Situation erfolgreich gemeistert, wandelt sich das Adrenalin über das Belohnungshormon Endorphin in Testosteron, das dem mutigen Macher anzeigt, was für ein steiler Hecht er ist. Das Testosteron führt auch dazu, dass die Adrenalin-Depots wieder aufgefüllt werden. Bleiben die Erfolgserlebnisse aus, bewirkt der gesteigerte Adrenalinpegel hingegen irgendwann den Umschlag zum Anti-Stress-Hormon Cortisol, einer Art körpereigenem Schmerz- und Beruhigungsmittel. Es sediert und macht apathisch, lässt uns auf Dauer gestellte Belastungssituationen besser ertragen, aber steht auch mit der Modekrankheit Burnout in Zusammenhang. Der ständige Wandel in Unternehmen ist also auch eine testosterongetriebene Abwehrschlacht gegen das Cortisol.
Selbst ins mittlere Management, das aufgrund seiner inhärenten Trägheit lange Zeit als „Lehmschicht“ apostrophiert wurde, ist die Botschaft von der Notwendigkeit der andauernden Neuerfindung mittlerweile eingesickert. In Carmen Losmanns verdienstvollem Dokumentarfilm Work Hard, Play Hard aus dem Jahr 2011, der den Kulturwandel oder vielmehr: die Change-Kultur der heutigen Angestelltenwelt zum Thema hat, begegnet uns eine subalterne Managerin der Deutsche Post AG mit dynamisch-asymmetrischer Kurzhaarfrisur, die als ihre Mission angibt, den „kulturellen Wandel nachhaltig in die DNA jedes einzelnen Mitarbeiters zu verpflanzen“. In einem Workshop ausgewiesener „Change-Agenten“ des Konzerns spekuliert sie darüber, ob es womöglich erst eine „burning platform“ braucht, um die mentalen Voraussetzungen für ihr Unterfangen zu schaffen.
Solche Sätze, so gehirngewaschen sie auf der Kinoleinwand erscheinen, fallen täglich hundertfach auf den Bürofluren und in Konferenzräumen der deutschen Wirtschaft. Niemals wird man hingegen in einem Entscheider-Meeting den Satz hören: „Wir wissen nicht, wie sich die Dinge entwickeln. Es gibt zu viele Unwägbarkeiten. Deshalb warten wir lieber mal ab.“ Die Reporting-Strukturen verlangen von jeder und jedem Einzelnen, andauernd Rechenschaft darüber abzulegen, dass etwas unternommen wird und nicht etwa nichts. Das ist ihre Daseinsberechtigung: der Change muss gemanaged werden. Und weil in einer von Angst und Paranoia getriebenen Kultur keiner allein verantwortlich sein mag, steht ein Heer externer Berater parat, die sich für gutes Geld als Coaches für das erforderliche „Change-Management“ buchen lassen.
In Sachbüchern und Seminaren, auf Konferenzen und Kongressen verkünden sie die Botschaft vom zwingend erforderlichen Wandel; „proaktiv“ ist dabei eine ihrer Lieblingsvokabeln. Um ein Gefühl für den Sound des permanenten Vollalarms zu bekommen, lassen wir wahllos, aber exemplarisch, einen von ihnen, Klaus Schuster aus Österreich, seines Zeichens Bestsellerautor und Managementcoach, zu Wort kommen. Und zwar warnt und mahnt er auf der Website zehn.de in seinen „10 effektivsten Tipps für das Change-Management“: „Warte nicht, bis die Umstände dich zwingen! Reagiere nicht! Agiere pro-aktiv! Wandle dich von selber. Hör genau zu, was Umstände, Zielgruppen, deine Resultate, deine Frühwarn-Indikatoren, Share- und Stakeholder dir rückmelden. Fühl ständig deren Puls. Schau nach, was es Neues bei anderen gibt. Frag dich, was du besser machen könntest. Und dann mach es, bevor du es musst!“
Von Füchsen und Igeln
Um Klarheit über die Richtung zu erlangen, die der Wandel annehmen soll, bucht man zudem Trend- und Zukunftsexperten. Sie sind die Schrittmacher und Stichwortgeber aktionistischer Management-Entscheidungen. Sie sind es, die mit höchster Dringlichkeit dasHandeln-Müssen in einer bestimmten Richtung ausrufen. Wer ihnen opportunistisch folgt, kann sich hinterher zumindest darauf berufen, nicht träge, nur schlecht beraten gewesen zu sein. Aber wie gut sind die Zukunftsprognosen anerkannter Experten?Wie sehr kannund sollte man sich darauf verlassen?
Philip Tetlock, ein kalifornischer Psychologieprofessor, wollte es genau wissen. Seine gesamte akademische Laufbahn hat er dem Thema gewidmet. Mitte der 1980er – Michail Gorbatschow war gerade in der UdSSR an die Macht gekommen und kündigte seine „Perestroika“-Politik an, das geostrategische Prognosegeschäft bekam dadurch ein paar Freiheitsgrade mehr – startete Tetlock sein Langzeitexperiment und identifizierte 284 anerkannte Experten auf den Feldern Politik und Wirtschaft, von Journalisten bis
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